War Lenin schuld?
Seite 3: Die Schwäche der Revolution als Ursache des Zerfalls Russlands
- War Lenin schuld?
- Rosa Luxemburg zur Nationalitätenpolitik der Bolschewiki
- Die Schwäche der Revolution als Ursache des Zerfalls Russlands
- Die Schatten der Vergangenheit sind zurück
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Sowohl Luxemburg als auch Putin sahen bzw. sehen also als entscheidenden Grund für die von beiden so heftig kritisierte Haltung der Bolschewiki zur Nationalitätenfrage deren Schwäche, den Umsturz abzusichern.
Deshalb glaubten Lenin, Trotzki und die anderen Revolutionäre gezwungen zu sein, den verschiedenen Völkerschaften am Rand Russland ein Selbstbestimmungsrecht "bis einschließlich der staatlichen Lostrennung von Russland" zuzugestehen. Aufgrund ihrer Schwäche akzeptierten sie auch den Diktatfrieden von Brest-Litowsk, der ihnen das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn im Frühjahr 1918 auferlegte.
Die Folgen waren für das junge, revolutionäre Russland fatal. Rosa Luxemburg stellt die Frage: "Wie kommt es, dass in allen diesen Ländern (die sich von Russland lossagen, A.W.) plötzlich die Konterrevolution triumphiert?" Ihre Antwort darauf6:
Die nationalistische Bewegung hat eben das Proletariat dadurch, dass sie es von Russland losgerissen hat, gelähmt und der nationalen Bourgeoisie in den Randländern ausgeliefert. (…) Die realen Klassengegensätze und die militärischen Machtverhältnisse haben die Intervention Deutschlands herbeigeführt. Aber die Bolschewiki haben die Ideologie geliefert, die diesen Feldzug der Konterrevolution maskiert hatte, sie haben die Position der Bourgeoisie gestärkt und die der Proletarier geschwächt.
Leo Trotzki beschrieb die Situation, in der sich Russland im Sommer 1918 befand so7:
Im Westen hatten sich die Deutschen Polens, Litauens, Lettlands, Weißrusslands und bedeutender Teile Großrusslands bemächtigt. (…) die Ukraine war eine deutsch-österreichische Kolonie.
Vorausgegangen war die Anerkennung einer unabhängigen Ukraine durch das Deutsche Reich. Über die Verhandlungen, die zum Diktatfrieden des Deutschen Reichs und Österreich-Ungarns mit dem revolutionären Russland in Brest-Litowsk Anfang 1918 führten, schrieb Trotzki8:
Czernin (der Verhandlungsführer Österreich-Ungarns, A.W.) hatte die Ukrainer - wie er selbst in seinem Tagebuch erzählt – ermuntert, mit einer offen feindlichen Erklärung gegen die Sowjetdelegation aufzutreten.
In Putins Rede fehlt jedoch der von Luxemburg herausgestellte Zusammenhang zwischen den überall an den Rändern Russlands aufkeimenden Nationalismen und den Interessen der konterrevolutionären Bourgeoisien dort. Das ist wenig verwunderlich, will doch heute das neue Bürgertum Russlands von der Oktoberrevolution und von Klassenkampf überhaupt nichts mehr wissen.
Die Nationalitätenpolitik der Bolschewiki erscheint bei Putin daher als willkürlich und nur dafür gedacht, deren Macht zu sichern. Dass sie tatsächlich aber das Überleben der sozialistischen Revolution sichern sollte, lässt er unter den Tisch fallen. Rosa Luxemburg begreift hingegen soziale Revolution und Nationalitätenfrage als zusammenhängend.
Sie kritisiert die Politik der Bolschewiki, weil sie das Proletariat in den Randgebieten den jeweiligen Nationalismen der Bourgeoisien auslieferte und damit die Revolutionäre dort von der russischen Sowjetmacht isolierte und so erst ideologisch und dann auch militärisch entwaffnete.
Rosa Luxemburg über den Nationalismus der Ukraine
Vor allem am Nationalismus der Ukraine ließ Rosa Luxemburg kein gutes Haar9:
Der ukrainische Nationalismus war in Russland ganz anders als etwa der tschechische, polnische oder finnische, nichts als eine einfache Schrulle, eine Fatzkerei von ein paar Dutzend kleinbürgerlichen Intelligenzlern, ohne die geringsten Wurzeln in den wirtschaftlichen, politischen oder geistigen Verhältnissen des Landes, ohne jegliche historische Tradition, da die Ukraine niemals eine Nation oder einen Staat gebildet hatte, ohne irgendeine nationale Kultur, außer den reaktionärromantischen Gedichten Schewtschenkos.
Es ist förmlich, als wenn eines schönen Morgens die von der Wasserkante auf den Fritz Reuter hin eine neue, plattdeutsche Nation und Staat gründen wollten. Und diese lächerliche Posse von ein paar Universitätsprofessoren und Studenten bauschten Lenin und Genossen durch ihre doktrinäre Agitation mit dem "Selbstbestimmungsrecht usw." künstlich zu einem politischen Faktor auf. Sie verliehen der anfänglichen Posse eine Wichtigkeit, bis die Posse zum blutigsten Ernst wurde: nämlich nicht zu einer ernsten nationalen Bewegung, für die es nach wie vor gar keine Wurzeln gibt, sondern zum Aushängeschild und zur Sammelfahne der Konterrevolution! Aus diesem Windei krochen in Brest die deutschen Bajonette.