War Lenin schuld?

Seite 2: Rosa Luxemburg zur Nationalitätenpolitik der Bolschewiki

In ihrer Schrift "Die russische Revolution", die sie im Herbst 1918 während ihrer Haft in Breslau verfasste, argumentierte Rosa Luxemburg ganz ähnlich wie Wladimir Putin heute.

Ihre Kritik an der Nationalitätenpolitik der Bolschewiki war sogar schärfer, ging sie doch von einem bereits erfolgten "Zusammenbruch und Zerfall Russlands" aus, wofür sie den Bolschewiki "einen Teil der Schuld" gab2:

Dass sich die militärische Niederlage in den Zusammenbruch und Zerfall Russlands verwandelte, dafür haben die Bolschewiki einen Teil der Schuld. Diese objektiven Schwierigkeiten der Lage haben sich die Bolschewiki aber selbst in hohem Maße verschärft durch eine Parole, die sie in den Vordergrund ihrer Politik geschoben haben: Das sogenannte Selbstbestimmungsrecht der Nationen oder was unter dieser Phrase in Wirklichkeit steckte: den staatlichen Zerfall Russlands.

Die mit doktrinärer Hartnäckigkeit immer wieder proklamierte Formel von dem Recht der verschiedenen Nationalitäten des Russischen Reichs, ihre Schicksale selbständig zu bestimmen "bis einschließlich der staatlichen Lostrennung von Russland", war ein besonderer Schlachtruf Lenins und Genossen während ihrer Opposition gegen den Miljukowschen wie gegen den Kerenskischen Imperialismus, sie bildete die Achse ihrer inneren Politik nach dem Oktoberumschwung, und sie bildete die Plattform der Bolschewiki in Brest-Litowsk, ihre einzige Waffe, die sie der Machtstellung des deutschen Imperialismus entgegenzustellen hatten.

Über die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts schrieb sie 3:

In der Tat, was soll dieses Recht bedeuten? Es gehört zum Abc der sozialistischen Politik, dass sie wie jede Art Unterdrückung so auch die einer Nation durch die andere bekämpft.

Wenn trotz alledem sonst so nüchterne und kritische Politiker wie Lenin und Trotzki mit ihren Freunden, die für jede Art utopische Phraseologie wie Abrüstung, Völkerbund usw. nur ein ironisches Achselzucken haben, diesmal eine hohle Phrase von genau derselben Kategorie geradezu zu ihrem Steckenpferd machten, so geschah es, wie es uns scheint, aus einer Art Opportunitätspolitik.

Lenin und Genossen rechneten offenbar darauf, dass es kein sicheres Mittel gäbe, die vielen fremden Nationalitäten im Schoße des russischen Reiches an die Sache der Revolution, an die Seite des sozialistischen Proletariats zu fesseln, als wenn man ihnen im Namen der Revolution und des Sozialismus die äußerste unbeschränkteste Freiheit gewährte, über ihre Schicksale zu verfügen. (…)

Während Lenin und Genossen offenbar erwarteten, dass sie als Verfechter der nationalen Freiheit, und zwar "bis zur staatlichen Absonderung", Finnland, die Ukraine, Polen, Litauen, die Baltenländer, die Kaukasier usw. zu ebenso vielen treuen Verbündeten der russischen Revolution machen würden, erlebten wir das umgekehrte Schauspiel: eine nach der anderen von diesen "Nationen" benutzte die frisch geschenkte Freiheit dazu, sich als Todfeindin der russischen Revolution gegen sie mit dem deutschen Imperialismus zu verbünden und unter seinem Schutze die Fahne der Konterrevolution selbst zu tragen.

Und weiter4:

Die Bolschewiki sollten zu ihrem und der Revolution größten Schaden darüber belehrt werden, dass es eben unter der Herrschaft des Kapitalismus keine Selbstbestimmung der Nation gibt, dass sich in einer Klassengesellschaft jede Klasse der Nation anders "selbstzubestimmen" strebt und dass für die bürgerlichen Klassen die Gesichtspunkte der nationalen Freiheit hinter denen der Klassenherrschaft völlig zurücktreten. Das finnische Bürgertum wie das ukrainische Kleinbürgertum waren darin vollkommen einig, die deutsche Gewaltherrschaft der nationalen Freiheit vorzuziehen, wenn diese mit den Gefahren des "Bolschewismus" verbunden werden sollte.

Ganz ähnlich heute Putin5:

Auf den ersten Blick lässt sich das überhaupt nicht erklären, es ist völliger Irrsinn. Aber das scheint nur auf den ersten Blick so. Es gibt eine Erklärung. Das Hauptziel der Bolschewiki nach der Revolution war, um jeden Preis an der Macht zu bleiben, wirklich um jeden Preis. Dafür waren sie zu allem bereit: Sie ließen sich auf die erniedrigenden Bedingungen des Friedens von Brest-Litowsk ein, in einer Zeit, als das Deutsche Kaiserreich und seine Verbündeten sich militärisch und ökonomisch in schwierigster Lage befanden und der Ausgang des Ersten Weltkriegs faktisch entschieden war; und auf sämtliche, auch die abwegigsten Wünsche und Forderungen der Nationalisten im eigenen Land.

Vom Standpunkt des historischen Schicksals Russlands und seiner Völker waren die Leninschen Prinzipien des Staatsaufbaus nicht nur einfach ein Fehler, sie waren, sozusagen viel schlimmer als ein Fehler. Seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 ist das vollkommen offensichtlich.