Was bleibt vom Kommunismus?

Seite 2: Die Illusion von der vollständigen politischen Emanzipation

Was die tatsächliche geschichtliche Entwicklung angeht, so heißt es bei Domenico Losurdo10:

Es soll (…) festgehalten werden, dass sich die Dinge völlig anders entwickelt haben, als Marx und Engels vorhergesehen haben.

Die Ursache dafür sieht Losurdo in der Verkennung des tatsächlichen Stands, den die politische Emanzipation im 19. Jahrhundert erreicht hatte.

Für Karl Marx galt diese Emanzipation bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den fortgeschrittensten Staaten als vollendet. In seiner Schrift Zur Judenfrage von 1843 schrieb er:

Die politische Emanzipation ist zugleich die Auflösung der alten Gesellschaft, auf welcher das dem Volk entfremdete Staatswesen, die Herrschermacht ruht. Die politische Revolution ist die Revolution der bürgerlichen Gesellschaft.

Und über den aus dieser Revolution hervorgehenden Menschen heißt es11:

Dieser Mensch, das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, ist nun die Basis, die Voraussetzung des politischen Staats. Er ist von ihm als solche anerkannt in den Menschenrechten. Die Freiheit des egoistischen Menschen und die Anerkennung dieser Freiheit ist aber vielmehr die Anerkennung der zügellosen Bewegung der geistigen und materiellen Elemente, welche seinen Lebensinhalt bilden. Der Mensch wurde daher nicht von der Religion befreit, er erhielt die Religionsfreiheit. Er wurde nicht vom Eigentum befreit. Er erhielt die Freiheit des Eigentums. Er wurde nicht von dem Egoismus des Gewerbes befreit, er erhielt die Gewerbefreiheit.

Daraus ergab sich für Marx der logische Schluss, dass es nach Abschluss der politischen Emanzipation nur noch um die soziale Emanzipation gehen könne. Die erste Emanzipation habe den Boden für die zweite bereitet, und diese soziale Umwälzung sollte das Proletariat erkämpfen.

Doch "im Westen ist die 'vollendete politische Emanzipation' keinesfalls das Resultat einer spontanen inneren Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft gewesen."12 Die drei großen Diskriminierungen – der Ausschluss der Nichteigentümer von den politischen Rechten, die Unterdrückung der Frauen sowie die Diskriminierung aus rassischen oder ethnischen Gründen – konnten erst nach langen Kämpfen, geführt auch und vor allem von der Arbeiterbewegung, zurückgedrängt und zumindest zu einem Teil überwunden werden.

Bis heute sind diese Kämpfe nicht beendet. Auf Phasen der Emanzipation folgen immer wieder solche der De-Emanzipation.

Betrachten wir etwa die Situation in den USA: Die nordamerikanischen Staaten galten für Marx als Land "der vollendeten politischen Emanzipation".13 Das wurde wohlgemerkt 1843 geschrieben, zu einer Zeit, als die USA noch eine Sklavenhaltergesellschaft waren und dort sogar die grausamste Form der Sklaverei – die Chattel Slavery – praktiziert wurde, bei der die Sklaven Eigentum des Besitzers waren. Erst mit dem amerikanischen Sezessionskrieg 1865/66, also gut zwei Jahrzehnte nach der Schrift von Marx, gelang die Abschaffung der Sklaverei.

Damit endeten die Leiden der Schwarzen aber noch lange nicht, sie blieben Bürger zweiter Klasse. Es bedurfte erst der Bürgerrechtsbewegung in den 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts, um zumindest ihre juristische Gleichstellung durchzusetzen. Doch sogar heute noch gibt es in den USA eine ausgeprägte gesellschaftliche Rassendiskriminierung.

Die Beschreibung der USA als Land "der vollendeten politischen Emanzipation" durch Marx konnte sich daher nur auf die weißen Einwohner beziehen, nicht auf die Schwarzen und schon gar nicht auf die Indigenen, den Indianern, die einem Völkermord zum Opfer fielen.

Nun ist es keineswegs so, dass Marx wie auch Engels zur Sklaverei, zur nationalen Unterdrückung von Iren oder Polen geschwiegen, oder dass sie die Gewalt in den Kolonien nicht zur Kenntnis genommen hätten. Ganz im Gegenteil! Es finden sich dutzende, bis heute kaum beachtete Artikel von ihnen, in denen sie nationale Unterdrückung, Rassendiskriminierung sowie die Entrechtung der Einwohner der Kolonien scharf geißeln.14

Im Alter beschäftigt sich Marx zudem mit der Entwicklung von Familienstrukturen, dabei nimmt er die Entrechtung der Frauen in den Blick.15

Es kann dennoch keinen Zweifel daran geben, dass Marx und Engels von einer Abfolge historischer Phasen ausgingen, wonach die erste, die der bürgerlichen Emanzipation, bereits zu ihren Lebzeiten im Wesentlichen abgeschlossen war. Ihre theoretischen und politischen Anstrengungen richteten sie daher ganz darauf aus, ihr nun die soziale Revolution folgen zu lassen.