Was ist eigentlich ein "Kriegsverbrechen"?

Seite 2: Auch ein Verbrechen: Wer die Geschäfte stört

Beim Vorgehen gegen den Warlord und späteren Präsidenten von Liberia waren die USA auch maßgeblich beteiligt. Sie setzten auf Charles Taylor ein Kopfgeld aus und waren mit seiner Verfolgung durch die Vereinten Nationen einverstanden. Taylor galt als verantwortlich für die Destabilisierung Westafrikas.

Damit umschrieben wurde das Ärgernis für die in Westafrika engagierten Staaten und deren Kapital, zuvorderst die USA, dass der Abbau und Abtransport der Rohstoffe durch die Kämpfe behindert wurde.

Welche Rebellengruppe hatte welches Gebiet unter Kontrolle, mit wie vielen verschiedenen Milizenführern musste man sich verständigen und sie bezahlen? Da ist natürlich nur ein Herrscher, der Volk und Land im Griff hat, viel besser.

Nur mit ihm muss man sich ins Benehmen setzen, nur ihn und seine Clique bezahlen – und Kautschuk, Kakao, Kaffee, Gold und Diamanten finden wieder reibungslos ihren Weg in die Länder der "Ersten Welt".

Diese Situation erstreckte sich auch auf Liberias Nachbarn Sierra Leone. Taylor unterstützte Rebellen, sorgte also auch dort für unklare und damit geschäftsschädigende Machtverhältnisse. Er stürzte die Regierung von Liberia, lieferte sich mit seinen Truppen erbitterte Kämpfe gegen andere Rebellengruppen während seiner Präsidentschaft, rekrutierte Kindersoldaten und handelte mit Blutdiamanten.

Als die britische Armee in den Bürgerkrieg in Sierra Leone eingriff und den Bürgerkrieg zuungunsten der von Taylor unterstützten Rebellen entschied, geriet Liberia als nächstes Ziel für die Stabilisierung der Region ins Visier der Vereinten Nationen – mit dem alles entscheidenden Segen des Sicherheitsrats, also den aufgrund ihrer Atomwaffen schlagkräftigsten Staaten USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien.

Von höchster Stelle wurde beschieden: Charles Taylor muss weg. Kurz nach seiner erzwungenen Abdankung klagte man ihn als Kriegsverbrecher an. Zum ersten Mal seit den Nürnberger Prozessen kam damit ein ehemaliges Staatsoberhaupt auf die Anklagebank.

Nationalist auf der falschen Seite? Kriegsverbrecher!

Radovan Karadzic ereilte das gleiche Schicksal. Die ihm zur Last gelegten Kriegsverbrechen fielen in seine Amtszeit als Präsident der serbischen Republik Bosnien-Herzegowina (Republika Srpska). Dieser Anfang 1992 neu gegründete Staat stand in unmittelbarem Gegensatz zu der Staatsgründung von Bosnien-Herzegowina. Letztere war Teil einer Reihe von Abspaltungen von Jugoslawien, begonnen mit der Gründung Kroatiens und Sloweniens 1991.

Man stelle sich vor: Bayern und Baden-Württemberg kämen zu dem Entschluss, sich von der Bundesrepublik Deutschland zu lösen. Weil sie nicht mehr länger die anderen Bundesländer finanzieren wollten, also darauf setzten, ohne diese Last wesentlich besser dazustehen.

Zumal eine extreme Wirtschaftskrise die gesamte Republik erfasste – und einige potente Nachbarstaaten eine Abspaltung unterstützen würden. Dieser Versuch der Abspaltung wäre hierzulande "Hochverrat gegen den Bund" (§ 81 Strafgesetzbuch). Ein Eingreifen Berlins, wenn nötig mit Gewalt, wäre die zwingende Folge.

Für Deutschland bis auf weiteres ein unwahrscheinliches Szenario lief das aber so im Falle Jugoslawiens: Die wohlhabenderen Länder wollten sich aus der Bundesrepublik verabschieden. Politiker schürten Ressentiments gegen die anderen jugoslawischen Völker, was vor allem die serbischen Minderheiten in Kroatien und Slowenien zu spüren bekamen.

Westliche Staaten, darunter sehr engagiert Deutschland, signalisierten Unterstützung für die Abspaltung und damit Zerschlagung Jugoslawiens. Nach dem Zerfall der Sowjetunion würde damit der letzte Störenfried der europäischen "Ordnung" beseitigt, so der Plan.

Gegen die Sezessionen ging die – serbisch dominierte – Regierung in Belgrad mit Gewalt vor, um Jugoslawien zu erhalten.

Es folgte ein jahrelanger Bürgerkrieg, in dem es auf beiden Seiten, dem Militär der abtrünnigen Staaten und der Jugoslawischen Volksarmee, zu ethnischen Säuberungen kam, zur Ermordung, zu Folterungen und Vertreibungen der jeweils feindlichen beziehungsweise unerwünschten Volksgruppe. Kroaten verfolgten Serben auf ihrem Gebiet, auch bosnische Muslime, Serben ihrerseits Kroaten, Slowenen und Bosnier.

Die Armee der Republika Srpska unter Radovan Karadzic ging mit Unterstützung von Belgrad vornehmlich gegen Bosnier vor und belagerte Sarajevo. Hierbei soll er verantwortlich gewesen sein unter anderem für Massaker (Srebrenica) und Bombardements auf Zivilisten.

Bereits vor Ende des Bürgerkriegs in Bosnien nahm das UN-Kriegsverbrechertribunal Ermittlungen gegen ihn und General Ratko Mladic auf. Anlass war der schwere Beschuss von Sarajevo.

Die serbische Niederlage Ende 1995 beendete die Karriere von Karadzic. Zunächst konnte er sich dem Zugriff des Tribunals entziehen. Doch 2008 entschloss sich das Rest-Jugoslawien Serbien, ihn auszuliefern.

Die Europäische Union hatte Belgrad dazu gedrängt. Nur so sei an eine Verbesserung der Beziehungen zu denken. Das überzeugte Serbien. Der Sieg Europas und der USA war damit vollendet, die Verlierer des Krieges verurteilt – oder sie starben kurz davor, wie der ehemalige Präsident Serbiens, Slobodan Milosevic.

Aufdeckung von Gräueltaten: beste Kriegspropaganda

In all diesen Fällen – und vielen weiteren, mehr oder weniger bekannten – waren und sind Staaten die maßgeblichen Akteure, Kriegsverbrecher anzuklagen. Und zwar solche Staaten, die die Macht besitzen, ihr Interesse an einer Verfolgung durchzusetzen und zur Angelegenheit einer internationalen Intervention zu machen.

Auf diese Weise gerät eine Seite der Kriege, in denen die Verbrechen stattgefunden haben, in einen moralischen Verruf – jedenfalls aus Sicht der Ankläger. Es ist dann nur gerecht, wenn gegen diese Verbrecher stellvertretend für das von ihnen vertretene, unterlegene Staatsinteresse vorgegangen wird.

Damit setzen sich die überlegenen Mächte in der Anwendung ihrer Gewalt ins Recht: die Interventionen in Liberia und Sierra Leone, das Eingreifen im jugoslawischen Bürgerkrieg gegen Serbien.

Gräueltaten taugen so bestens zur Propaganda. Natürlich begeht sie nur die "böse" Seite im Krieg, die "Guten" verhindern mit ihren Panzern und Raketen lediglich das Schlimmste. Gelegentlich wird dann auch mal über das Ziel hinausgeschossen. Beispielsweise als der damalige Außenminister Joschka Fischer (Bündnis 90 / Die Grünen) die Beteiligung Deutschlands am Bombardement Serbiens 1999 so begründete:

Auschwitz ist unvergleichbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen.

Da gründen sich Staaten mit Gewalt, sortieren ihre Untertanen nach ethnischen Kriterien, töten wechselseitig die potenziellen "Vaterlandsverräter", weil dem Volk des Gegners irgendwie zugehörig und daher möglicherweise feindlich – und ein deutscher Politiker kann sich dabei nicht heraushalten und sich mit Friedensappellen begnügen: Nein, seine tiefste moralische Aufgabe ist es, gezielt eine Bürgerkriegspartei zu bombardieren. Weil die sich nicht an die Ansagen der EU und der USA halten will? Mitnichten!

Vielmehr sollen natürlich nur Kriegsverbrechen verhindert werden – mit so viel Krieg indes, dass von den eventuellen Kriegsverbrechern und ihrem Land kaum etwas übrig bleibt.

Und das mit bestem Gewissen: Der Herr Außenminister regiert schließlich eine Nation, die sich mit Kriegsverbrechen sehr gut auskennt. "Nie wieder Auschwitz" taugt als unwidersprechlicher Beweis des sowohl selbstlosen als auch moralisch hochstehenden deutschen Anliegens. Ein argumentativer Totschläger, der seinen Zweck nicht verfehlte: Die Mehrheit von Bündnis 90 / Die Grünen folgte ihrem Joschka in den Krieg.

Fischers US-amerikanischer Kollege Colin Powell fuhr ebenfalls starkes Geschütz auf: Vor den Vereinten Nationen 2003, als er vermeintliche Beweise für biologische Massenvernichtungswaffen im Irak vorlegte, mithin ein potenzielles Kriegsverbrechen, da die Anwendung dieser Waffen unter ein Verbot fallen, das 185 Staaten unterzeichnet haben, darunter alle EU-Mitglieder.

Der Vortrag verfehlte nicht die beabsichtigte Wirkung: Da musste doch etwas gegen unternommen werden! So setzte sich die USA ins moralische Recht, um dem vermeintlichen Kriegsverbrecher Saddam Hussein das Handwerk zu legen. Jenem Hussein übrigens, dessen Gebrauch von Giftgas im Krieg gegen den Iran ihm nie von den USA zur Last gelegt worden war – weil er es gegen den richtigen Gegner, den bösen Gottesstaat und Ami-Feind eingesetzt hatte.

Praktisch folgte daraus zwar kein Auftrag der UN, die USA erhielten kein Mandat für einen Krieg. Doch ein möglicher Bruch des Völkerrechts störte die "Koalition der Willigen" nicht weiter.

Auch nicht, dass die Beweise auf falschen Geheimdienstinformationen basierten. Der Krieg fand statt, und irakische Massen von Menschen und Material wurden von den USA und verbündeten Staaten vernichtet, ganz ohne Massenvernichtungswaffen.

Die Tradition aufgedeckter oder drohender Gräueltaten, die den staatlicherseits ausgemachten Feind ins moralische Abseits stellt und ihn damit zum Abschuss freigibt, wurde nach dem dritten Golfkrieg weiter intensiv gepflegt – beispielsweise in Libyen, Syrien und aktuell in der Ukraine.

Gaddafi, Assad oder nun Putin: Diesen Diktatoren und ihren Regimes wurde und wird alles Schlechte dieser Welt nachgesagt. Sie bringen Leid über Land und Leute – weil sie angeblich vor nichts zurückschrecken, um ihre Macht zu erhalten und zu erweitern.

Das kann man zwar von ziemlich jedem Politiker sagen, der was auf sich hält und seine Nation voranbringen will – aber, nun ja, so genau will dieses Urteil auch gar nicht wissen, welche Zwecke diese Staaten verfolgen. Sie stehen halt auf der von der eigenen Herrschaft aufgestellten schwarzen Liste, täglich wiedergekäut von der Mehrheit der Medien.

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