Was ist rückwärts, was ist vorwärts ?

Seite 2: Die Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Bewegungen

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Es gibt also eine Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Bewegungen. Das exakt ist die Struktur von "Tenet". Wenn man auf diesen Titel achtet, und zugleich vergisst, dass es sich um das englische Wort für "Grundsatz" und "Theorem" handelt, dann kann einem auffallen, dass dies ein Palindrom ist, also ein Wort, das sich von hinten nach vorne genauso wie von vorne nach hinten lesen lässt.

Mindestens drei Genres überlagern sich hier: Zuerst das Spionage-Genre, das diesen Film als eine sehr avancierte oder wenn man will auch sehr zeitgemäße Neu-Auflage eines James Bond-Films erscheinen lässt, des klassischen Agententhrillers - mit schönen und geheimnisvollen Frauen, spektakulären Bildern, Jet-Set-Schauplätzen und ganz vielen Actionsequenzen.

Nicht unterschätzen sollte man, wie hier Schauplätze ausgestellt werden, wie Nolan hier versucht, die Lust an der Bewegung – als Selbstzweck – zu inszenieren, die Lust an Orten – dies ist insgesamt ein schöner Film, der mit Schauwerten und mit Spektakel arbeitet - auch immer einen Grund, warum man ins Kino geht.

Dazu kommt der "Heist-Film", den Safeknacker-Film. Gleich zwei spektakuläre und wunderschön anzusehende Diebstahlsaktionen gibt es hier: Der Einbruch in ein Pentagon-ähnliches Hochsicherheitsdepot in Norwegen, bei dem ein Jumbo mit hoher Geschwindigkeit hineingesteuert wird, ist schön, der Überfall in Tallin, mit vier Lastwagen, die einen Transporter einklemmen und dann von oben mit der Feuerwehrleiter eines Feuerwehrwagens einsteigen, ist noch schöner.

Wie schon in "Inception" muss etwas gestohlen werden, diesmal aber nicht aus dem Unterbewusstsein, sondern aus einer Parallelwelt.

Zeitreisen in der Gegenwart

"Was passiert hier?" - "Es ist noch nicht passiert." Dabei kämpft die Hauptfigur gewissermaßen gegen die Zukunft. "Wir werden aus der Zukunft angegriffen." heißt es. Dagegen kämpfen kann sie mittels einer Zeitreise-Technik, die Zeitreisen in der Gegenwart durchführbar macht.

Gewissermaßen kann man die Gegenwart hier vor und zurückspulen. Ob das physikalisch möglich ist, sei dahingestellt. Die Hauptfigur aber ist also eine Art Zeit-Krieger, einer, der in der Zeit zurückreisen kann.

Es handelt sich allerdings um Zeitreisen der anderen Art, als man sie aus gewöhnlicher Science-Fiction kennt: Um einen Zeitreisefilm, bei der die Zeitreise in der Gegenwart stattfindet. Bei der die verschiedenen Zeitebenen - Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart - in eins fallen.

Bild: © 2020 Warner Bros. Entertainment

Im Kino ist das möglich, und es ist das besondere Können des Regisseurs Nolan, dass er immer wieder, auch in diesem Thriller, über "Relativitätstheorie" die Fähigkeit de Kinos ausreizt, unmögliche Bilder zu präsentieren, die innerhalb der filmischen Logik trotzdem funktionieren: Eine Miene, die rückwärts nach innen explodiert, oder ein Haus, das aus seinen Trümmern wieder zusammengesetzt wird. Auch das sind schöne, ungesehene Bilder.

Das dritte Genre, dem dieser Film zuzurechnen ist, ist der Paranoia Trailer. Denn es geht schon auch darum, unsere Welt darzustellen - und Nolan zeigt sie als eine Welt, über die der Einzelne nicht verfügt, nicht mehr verfügt.

Eine Welt, der er fast ohnmächtig ausgeliefert ist. Wir bekommen hier zwar Menschen gezeigt, die als Einzelne einen Unterschied machen können. Auf der anderen Seite bekommen wir die gleichen Menschen gezeigt als solche, die hilflos dem Gang der Dinge ausgesetzt sind, und die vor etwas beschützt werden, was sie noch nicht mal als Gefahr wahrgenommen haben.

Es gibt auch die Differenz aus den wenigen Wissenden und den vielen Unwissenden.

Der Wunschtraum der universalen Manipulation

Diese Differenz entspricht hier mehr denn je der prinzipiellen Dramaturgie des Films: Was hier mit den Zuschauern passiert, ist, dass man eine Handlung zweimal erlebt: Einmal von links nach rechts, ein anderes Mal von rechts nach links.

Was hier rückwärts, was vorwärts ist, wird zunehmend unklarer. Diese umgekehrte Handlungsrichtung ist nicht dasselbe, als würde die Handlung rückwärts laufen - denn was hier tatsächlich passiert, ist, dass ein Teil der Handlung in den ersten zwei Dritteln rückwärts gelaufen ist - oder invertiert -, und genau dieser Teil läuft im letzten Drittel dann vorwärts. Natürlich schon etwas beschleunigt, weil wir "wissen", was passieren wird - und auch wieder nicht.

Dies alles ist in mancher Hinsicht auch der Wunschtraum unserer Zeit. Der Wunschtraum, dass man Dinge ungeschehen machen könnte, der Wunschtraum der universalen Manipulation: Der Manipulation nicht nur der Welt, wie sie ist, sondern auch der Welt, wie sie war und der Welt wie sie sein wird. Es ist der Wunschtraum, dass auch Geschichte und auch die Zeit ein verfügbarer Raum wäre.

Es ist der Wunschtraum, dass jeder von uns Gott ist, der am Joystick Welten baut und Welten einstürzen lässt. Und wenige Regisseure haben diese Gottesvorstellungen, die man nicht Gotteskomplex nennen muss – und dadurch gleich wieder pathologisieren –, nicht viele Regisseure unserer Zeit leben diesen Traum so sehr in ihren Filmen wie Christopher Nolan.

"Wir werden noch viel miteinander erleben", sagt eine Figur am Ende, "meine Reise endet hier, deine fängt hier erst an." Damit ist in diesem Film nicht nur schon eine Fortsetzung angelegt - auch Christopher Nolan signalisiert uns, dass wir noch viel miteinander erleben werden.