Wehrpflicht-Debatte: Wer sagt, dass er am Leben hängt, muss mit Shitstorm rechnen
Artikel junger Männer, die nicht für Deutschland sterben wollen, sorgen für Empörung. Ukrainer werden als Vorbild genannt. Doch sind sie das alle freiwillig?
Der 26-jährige Autor und Podcaster Ole Nymoen ist nicht der erste Mann unter 40, der in Deutschland seit Beginn der "Zeitenwende" mit dem offenen Bekenntnis, nicht mit der Waffe in der Hand für Deutschland kämpfen zu wollen, für Entrüstung sorgt. Letzteres ist so ziemlich das Gegenteil von verbaler Abrüstung, wie die Reaktionen auf seinen Zeit-Artikel "Ich, für Deutschland kämpfen? Never!" vom 25. Juli beweisen.
Vorwurf an Kriegsunwillige: Lumpenpazifismus
Völlig unvorbereitet trifft ihn das nicht: Andere mussten schon ähnliche Erfahrungen machen.
Christian Baron (*1985), dessen autobiographischer Roman "Ein Mann seiner Klasse" gerade verfilmt wurde, hatte Anfang 2023 im Freitag ein "Lob der Schwäche" mit der Kernaussage "Ich werde mein Land nicht mit der Waffe verteidigen, sondern fliehen" veröffentlicht und war dafür in "Sozialen Netzwerken" unter anderem als "Lumpenpazifist" und "Kreml-Troll" verunglimpft worden.
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Wenig später hatte sich Baron in die Elternzeit verabschiedet und auch angesichts der Anfeindungen mit politischen Kommentaren erst einmal zurückgehalten.
Wem Freiheitsfreunde russische Lagerhaft wünschen
Ole Nymoen bekam nun einen Shitstorm der Extraklasse, weil er in der Zeit zum selben Thema sinngemäß schrieb, dass er auch "Fremdherrschaft" dem Tod in einem Krieg vorziehen würde, zumal die Interessen der Herrschenden des eigenen Landes nicht deckungsgleich mit denen der Beherrschten seien.
Vorgebliche Verteidiger westlicher Freiheiten ließen in der Zeit-Online-Kommentarspalte durchblicken, dass einer wie er aus ihrer Sicht durchaus russische Lagerhaft verdient hätte.
Krieg nach Russland tragen – geflohene Männer an die Front?
Der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter, der erklärtermaßen durch deutsche Waffenlieferungen den Ukraine-Krieg "nach Russland tragen" will, warf Nymoen auf der Plattform X Zynismus vor. Im aktuellen Interview mit der Berliner Zeitung ließ Nymoen das nicht auf sich sitzen:
Roderich Kiesewetter ist ein Mann, der noch vor wenigen Monaten gefordert hat, den Ukrainern das Bürgergeld zu entziehen und sie zu zwingen, in ihre Heimat zurückzukehren, um dort mit der Waffe zu kämpfen. Dass mir solche Leute Zynismus vorwerfen, finde ich erst einmal niedlich.
Ole Nymoen im Gespräch mit der Berliner Zeitung
Etwa ein Drittel Zustimmung für Wehrdienstkritik
Nachdem die negativen Reaktionen auf seinen Artikel in der Kommentarspalte zunächst sehr heftig gewesen seien, habe nach wenigen Tagen etwa ein Drittel "gesagt, dass sie meinem Text etwas abgewinnen können".
Zudem solidarisierte sich der Journalist Kevin Gensheimer in der Berliner Zeitung mit Nymoen: "Geht’s noch? Weil er nicht für Deutschland kämpfen will, wünscht man ihm russische Lagerhaft", schrieb er und erklärte ebenfalls, nicht zum Sterben für Deutschland bereit zu sein.
Auch ukrainische Männer entziehen sich Kriegsdienst
Im März 2022 war Hannah Lakomy in einem Debattenbeitrag unter der Überschrift "Lob der Feigheit" für die Berliner Zeitung auf das oft bemühte ukrainische Vorbild eingegangen und hatte darauf verwiesen, dass ukrainische Männer (sowie im Einzelfall Transfrauen) diese Rolle nicht immer freiwillig übernehmen:
Vielleicht sind echte ukrainische Helden ja ausdauernder als wir verwöhnten EU-Bürger im Westen? Jedenfalls, wer kein Held sein und feige aus dem Land fliehen will, wird durch die Grenzbeamten daran gehindert.
Hannah Lakomy, März 2022
Manchen gelang dennoch die Flucht. Inzwischen soll es allein in Deutschland rund 200.000 ukrainische Männer im wehrfähigen Alter geben, die unter anderem Kiesewetter zur Rückkehr bewegen will, weil sie "in der Ukraine bei der Unterstützung des Landes im Verteidigungskampf fehlen".
Die Angst, als Kanonenfutter benutzt zu werden
Der NDR berichtete vor wenigen Tagen über einen jungen Ukrainer, der seit zwei Jahren in Deutschland lebt und gerade erst volljährig geworden ist. Im Fall einer Rückkehr würde er sofort eingezogen. "Ich kann ehrlich zugeben, dass ich nicht in den Krieg gehen will, weil ich einfach Angst habe, dass ich verletzt oder traumatisiert werde", so der 18-jährige Stanislav Roh.
"Der Krieg hat schreckliche Auswirkungen auf den Menschen. Ich habe auch Angst, dass ich danach nicht weiter normal leben werde. Und ich weiß nicht, ob der Staat mich danach wirklich unterstützen kann. Ich sehe die Gefahr, dass man einfach zum Kanonenfutter wird." Er wolle nicht "so benutzt werden".