Wenn man das Recht an der eigenen Lebensgeschichte verliert

Warum die Fortsetzung des Jahrhundertfilms "Die Reifeprüfung" nie in die Kinos kam

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"Die Reifeprüfung", englischer Originaltitel „The Graduate“, ist ein Film, der niemand kalt gelassen hat, den eigentlich jeder kennt. Er kam vor fast 40 Jahren im Jahr 1967 in die Kinos und war einer der ersten Filme, in der die erste Liebe des Titelhelden nicht ganz so romantisch ablief, wie in Hollywood bis dato üblich gewesen: der Titelheld hat seine erste sexuelles Erlebnis nicht mit seiner großen Liebe, sondern mit einer verheirateten, älteren Alkoholikern, der berühmten Mrs. Robinson.

Die Liebe erwischt ihn erst, als er ihre Tochter auf Bitten seiner Eltern kennenlernt, während die Mutter genau dies mit aller Gewalt verhindern will, die nun nicht will, dass „so einer" Ihre Tochter entehrt und die ganze Familie mit, weil der Skandal dadurch auffliegt.

“The Graduate“: Auch ein berühmter Soundtrack

Das tut er natürlich ohnehin und der Titelheld kämpft bis zum letzten Benzintropfen – ja, hätte er sich nur von VW und nicht von Alfa Romeo sponsoren lassen – um seine Liebe. Sehr gefühlvoll, ja dramatisch, und wer nicht im Kino, sondern zuhause im Fernsehen den Film das erste Mal sah, ist die letzten 100 m vermutlich mit Dustin Hoffman gerannt. Dieser wurde mit dieser Rolle ebenso berühmt wie das Folk-Duo Simon & Garfunkel. Wer denkt sich nur so etwas aus?

Hide it in a hiding place where no one ever goes
Put it in your pantry with your cupcakes
It's a little secret, just the Robinsons' affair
Most of all, you've got to hide it from the kids
Simon & Garfunkel – Mrs. Robinson

Charles Webb hat das Buch 1963 geschrieben, das dem Film zu Grunde liegt. Was jedoch kaum bekannt ist: Die Geschichte des schüchternen angehenden Studenten, der von der unmoralischen älteren Frau verführt wird und später mit ihrer Tochter durchbrennt, ist die Geschichte seines eigenen Lebens. Die Geschichte eines Pärchens, das sich nie an Konventionen und Vorschriften halten wollte.

Leider hielt sich Webb auch nicht an die für den Verkauf von Filmrechten üblichen Regeln: 60 Millionen spielte die Reifeprüfung an der Kinokasse ein, doch für eine einmalige Zahlung von 14.000 $ trat er seinerzeit sämtliche Rechte auf Lebenszeit ab, und zwar nicht nur die an der Verfilmung seines Romans, sondern auch die an den beiden Charakteren, Benjamin Braddock und Elaine Robinson im Film und Charles und Fred Webb im echten Leben.

“Home School“: Reifeprüfung Teil II

Und auch wenn Webb Geld Zeit seines Lebens nicht besonders wichtig war, könnte er jetzt durchaus welches brauchen: Vor sechs Jahren war er zusammen mit Fred aus Amerika ausgewandert und nach England gezogen und steht nun vor dem Rausschmiss durch seinen Vermieter, weil er seit mehreren Monaten die Miete nicht bezahlen kann. Deshalb würde er nun gerne die Fortsetzung zu der Reifeprüfung niederschreiben, der Titel „Home School" (Heimunterricht). Auch dies die echte Geschichte von Charles und Fred, ganz anders als die Reifeprüfung, aber mindestens ebenso chaotisch:

Charles und Fred waren so enttäuscht über ihre eigenen Schuljahre, dass sie ihre Kinder aus der Schule holten und sie zuhause selbst unterrichteten, um ihnen diese Erfahrung zu ersparen. Dies war jedoch zu jener Zeit in Kalifornien illegal. Sie flüchteten deshalb vor den Autoritäten, indem sie sich mitsamt den Kindern ausgerechnet in Nudistencamps versteckten. Fred hatte diesen Namen angenommen – sie war als Eva geboren worden – um Solidarität mit einer Männerunterstützungsgruppe zu bekunden. Außerdem hatten sie und Charles sich scheiden lassen, nicht etwa, weil sie nicht zusammenbleiben wollten, sondern um gegen die Institution der Ehe zu protestieren. Das klingt ohne Zweifel nach einem interessanten Buch und einem lustigen, spannenden Film. Doch bislang hat sich Charles geweigert, diese Geschichte aufzuschreiben und einem Verlag zu geben. Warum?

Weil er nach der momentanen Lage keine Kontrolle über die Verfilmung seines Buches hätte! Wegen seiner ungeschickten, großzügigen Handhabung der Filmrechte an der Reifeprüfung hätte nun Canal Plus, der französische Pay-TV-Anbieter, jederzeit das Recht, auch Charles Webbs neues Buch zu verfilmen, ohne ihm Tantiemen zahlen oder ihn auch nur um Erlaubnis fragen zu müssen. Dieser Sender hat offensichtlich das erreicht, was Leo Kirch seinerzeit vorschwebte, nämlich Rechte an möglichst vielen Klassikern der Filmgeschichte zu erhalten – auch die am deutschen „Millionenspiel“ (Filmrechte: Ein Millionenspiel) liegen heute bei Canal Plus. Sogar eine Verfilmung, die das Leben von Charles und Fred ins absolut Lächerliche zieht, könnte er nicht verhindern. Deshalb wollte er eigentlich erst nach seinem Tod das Buch veröffentlichen lassen, weil ihm dann egal sein kann, was Canal Plus aus seinem Lebenslauf macht.

Eine kleine Chance gibt es nun allerdings: Ähnlich wie im deutschen Urheberrecht und anders als im amerikanischen Copyright ist es im französischen Recht nicht zulässig, dass ein Autor alle Rechte auch an zukünftigen Werken pauschal abgibt. Damit könnte es möglich sein, Canal Plus die Rechte an Webbs neuem Buch zu entziehen. Allerdings müsste er sich beeilen, er ist nun 66 Jahre und seine Partnerin Fred seit fünf Jahren nach einem Nervenzusammenbruch klinisch depressiv und Canal Plus könnte die Rechte schnell wieder in die USA zurückverkaufen. Doch Webb ist auch heute leider noch kein Verkaufstalent und wir werden auf die Geschichte, wie es mit dem rebellischen Pärchen aus der Reifeprüfung nun weiterging, noch etliche Jahre warten müssen…