Werden die fehlenden Massenvernichtungswaffen zum Rohrkrepierer für die US-Regierung?

US-Experten zur Erkenntnislage über Massenvernichtungswaffen im Irak; britische Wissenschaftler bestreiten, dass die angeblichen "mobilen Labors" zur Herstellung von Kampfstoffen gedient haben sollen

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Was wissen wir heute, am 10. Juni, über Massenvernichtungswaffen im Irak? Diese Frage stellten sich im Rahmen von PAWSS (Program in Peace and World Security Studies) eine Reihe von hochkarätigen Spezialisten für ABC-Waffen in Amherst, Mass. Die Bilanz der Wissenschaftler ist vernichtend: Einerseits wissen wir nicht mehr als die amerikanischen Geheimdienste offenbar schon vor Kriegsbeginn gewusst haben, andererseits wissen wir (noch) nicht, warum ausgerechnet die Bush-Administration davon nichts gewusst hat oder hat wissen wollen.

Eines der angeblichen irakischen mobilen Biowaffen-Labors

Joseph Cirincione vom Carnegie Endowment for International Peace konfrontierte den offiziell angeführten Grund für den Krieg gegen den Irak mit den bisher gewonnenen Erkenntnissen. Zwar habe die Bush-Administration immer und immer wieder auf die Gefahr hingewiesen, die von dem Arsenal an Massenvernichtungswaffen im Irak ausgehe, von den "nuklearen Bomben, von Hunderten von Tonnen biologischer und chemischer Kampfstoffe". Gefunden worden sei aber bislang "nicht eine Scud, nicht ein Gramm verdächtiger biologischer oder chemischer Substanzen" (Apparatus of Lies?).

Die vielleicht naheliegende Erklärung, die Waffen seien zur Täuschung der Weltöffentlichkeit vor dem Krieg zerstört worden, scheidet für den Autor der Studie "Deadly Arsenals" aus drei Gründen aus. Erstens wären derartige Waffen - hätte es sie gegeben - nicht zerstört, sondern verwendet worden. Zweitens sei ihre Zerstörung viel zu aufwendig und kompliziert, als dass sie in einem Land wie dem Irak, das unter ständiger Beobachtung stand, unbemerkt geblieben wäre. Und drittens gebe es ausgerechnet für eine derart personalintensive Zerstörung keinen einzigen Zeugen.

Dass die US-Regierung ihren Krieg offenbar an den einschlägigen Informationen der Geheimdienste vorbei geführt hat, bestätigte neben Cirincione auch Susan Wright. Gemäß der Spezialistin für Geschichte und Politik biologischer Kriegsführung hat im März 2003 Konsens unter den Experten bestanden, dass der Irak derzeit weder über Massenvernichtungswaffen verfügt, noch über die Möglichkeit, frühere Programme wieder aufzunehmen. Was speziell biologische Waffen betrifft, so sind für die Wissenschaftlerin der Universität Michigan eventuelle Funde, die zukünftig im Irak noch gemacht werden können, alles andere als aussagekräftig. Ihre Formel: Wer Pestizide zur landwirtschaftlichen Nutzung herstellen kann, kann auch biologische Waffen produzieren - und dazu sind alle industrialisierten Länder in der Lage.

Dem einzigen "Fund", der bisher öffentlich gemacht worden ist, widmete sich Christopher E. Paine vom Nuclear Program of the Natural Resources Defence Council in Washington - nämlich dem Fund jener Lastwagen, bei denen es sich um mobile Labors handeln sollte. Schon aufgrund der von ihnen kursierenden Fotos, so Paine, sei eine militärische Nutzung undenkbar. Deutlich erkennbar handele es sich um Planwagen ohne Panzerung, die den Insassen keinerlei Schutz vor giftigen Substanzen hätten bieten können (der vom CIA erstellte Bericht "Iraqi Mobile Biological Warfare Agent Production Plants" vom 28. Mai ist mittlerweile wieder von der Website der CIA entfernt worden).

Der britische Observer berichtet heute überdies, dass auch von der britischen Regierung beauftragte Experten nach einer Untersuchung der Lastwagen eine Verwendung von diesen als Labors zur Herstellung von biologischen Kampfstoffen ausgeschlossen haben. Ihr Verwendungszweck sei die Herstellung von Wasserstoff für Militärballons gewesen - was die Iraker stets als ihren Verwendungszweck angegeben hätten. Das ist auch unangenehm für den britischen Regierungschef Tony Blair, der ebenso wie US-Präsident Bush die beiden Lastwagen als Beweis für die Existenz von biologischen Massenvernichtungswaffen im Irak angeführt hatte.

Diese Bilanz könnte zu einem massiven Problem für George W. Bush und die Rede von den Massenvernichtungswaffen zu einem Rohrkrepierer werden. Nach Angaben der drei Experten und des Direktors des PAWSS, Michael Klare, deckt sie sich weitgehend mit den Informationen und Voraussagen der amerikanischen Geheimdienste, die seit der Zeit der Clinton-Regierung keine gravierenden Änderungen der Lage im Irak hätten feststellen können. Und, wie insbesondere Cirincione etwas süffisant ausführte, hat es sich bei den Vorkriegsreden des Präsidenten ja nun nicht um spontane, persönliche Meinungsbekundungen gehandelt, sondern um Produkte aufwendigen Briefings. Infolgedessen werde man dem Verdacht auf eine bewusste Manipulation bis zu einem Impeachment-Verfahren für George W. nachgehen müssen.

Erhärtet wird der Manipulationsverdacht durch einen weiteren Aspekt. Nach Cirincione, Wright und Paine lässt sich derzeit eine Verschiebung in der offiziellen Phraseologie beobachten, deren Stoßrichtung eindeutig ist: Vor Kriegsbeginn sei noch vollmundig von der Existenz von ABC-Waffen die Rede gewesen. Im Diskurs während des Krieges habe sich dieses Faktum allmählich in die bloße Möglichkeit von Waffenprogrammen verwandelt. Und mittlerweile gebe es das kleinlaute Credo von Lawrence Eagleburger (Außenminister unter George Bush sr., derzeit Chefberater bei Halliburton), dass man schließlich das "Recht" habe, an die Existenz solcher Waffen zu "glauben".

Glaube, wer da will - er wird sich fragen lassen müssen, warum er das glauben will. Und möglicherweise wird sich George W.Bush genau das im Rahmen eines Impeachment-Verfahrens fragen lassen müssen (Impeach, or not impeach).