Wider das Hilflossein mit Neonazis

Was tun gegen den national(sozial)istischen Kleinkrieg daheim? Familien von Neonazis können jetzt auf Hilfe hoffen

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Hilflos habe man sich gefühlt, sagen die Eltern, die ihren Namen nicht veröffentlicht wissen wollen. Innerhalb eines Jahres hat sich ihr jugendliches Kind von einem Mitläufer der rechten Szene zu einem überzeugten Neonazi entwickelt. Die Eltern suchten die ganze Zeit über Hilfe. Das Kommissariat Vorbeugung der Polizei konnte nur an städtische oder kirchliche Beratungsstelle vermitteln. Dort erhielten die Eltern klassische Tipps im Umgang mit schwer erziehbaren Jugendlichen, die nicht halfen und für zusätzliche Verwirrung sorgten. Streetworker und Sozialarbeiter wussten keinen Rat oder äußerten gar ihre Angst vor Übergriffen.

Die Eltern gaben sich letztlich selbst die Schuld daran, dass ihr Kind nun rechte Rockmusik mit ausländerfeindlichen Hetztexten hört, straffällig wurde, im Kinderzimmer auch einmal eine Hakenkreuzfahne hing und „Kameraden“ ein- und ausgehen. Mit Verwandten, Freunden und Nachbarn konnten sie nur sehr schwer oder gar nicht darüber reden.

Während Sicherheitsbehörden, Jugendberatungsstellen, Initiativen und Journalisten seit Jahren Aufklärungsarbeit über rechtsextreme Parteien und „Kameradschaften“, deren Politik, Argumentation, Zeichensprache und Mode (Schwarze Sonne statt Hakenkreuz) anbieten, gibt es kaum konkrete Beratungsangebote für betroffene Eltern. Selbst Jugendarbeiter und Lehrer stehen oft dem Problem hilflos gegenüber oder haben sich mühselig eigene Handlungsmuster erarbeitet.

Erst dann, wenn das sprichwörtliche Kind in den Brunnen gefallen ist und straffällig wurde, schreitet die Polizei ein, etwa mittels Gefährderansprache. In Haft einsitzende, ausstiegswillige „Kameraden“ können manchmal auf angepasste Antigewalt-Trainings wie jenem des Vereins Violence Prevention Network hoffen. Jugendliche, rechtsextrem motivierte und inhaftierte Straftäter nehmen dabei an dem Programm „Verantwortung übernehmen – Abschied von Hass und Gewalt“ teil.

Aussteigerprogramme – nicht nur für Straftäter – bieten die Innenministerien sowohl im Bund, als auch in den Ländern an. Die Privatinitiative Exit bietet ein ähnliches Programm an. Doch zwischen Aufklärung über die und Ausstieg aus der Braunszene finden insbesondere Eltern – die noch am effektivsten Präventionsarbeit leisten könnten, wenn sie nur wüssten, wie sie zu Hause auf „ihre“ Mitläufer oder noch wenig gefestigte Neonazis reagieren könnten – kaum Hilfe und Beratung. Eine vor rund drei Monaten zu dem Thema an das Innenministerium in Nordrhein-Westfalen (NRW) gerichtete Presseanfrage blieb etwa bislang unbeantwortet. Unterdessen arbeitet jedoch eine gemeinnützige Initiative in NRW daran, um bald Informationen und Beratungsangebote für betroffene Eltern bereitstellen zu können. Zudem gibt es in verschiedenen Städten und Regionen NRWs Erziehungsberatungsstellen mit speziell fortgebildeten Sozialarbeitern.

Nordrhein-westfälische Behördeninsider äußerten sich im Rahmen der damaligen Recherche bestürzt darüber, dass es in manchen Regionen eine „riesige Lücke“ gebe und auch sie den immer mehr werdenden und Rat suchenden Eltern oft keine lokalen Anlaufstellen nennen können. Dabei betonen betroffene Eltern immer wieder, wie wichtig genau das für sie wäre. Letztlich fühlen sie sich oft als Erziehungsversager oder greifen auf Internet-Suchmaschinen zurück, um Rat zu finden.

Dabei stoßen sie dann auch auf die Erkenntnis, dass es anderen ebenso ergeht, und das unabhängig von den jeweiligen Familienverhältnissen, der sozialen Lage oder der politischen Einstellung der Betroffenen, wie das Beispiel einer sozialdemokratisch geprägten Familie aus Wunsiedel zeigt. Und eines der bislang wenigen im Web auffindbaren Angebote war eine Broschüre von Exit mit dem Titel „Letzter Halt. Ausstieg“. Auch wenn der Ratgeber sich dem Problemfeld Ausstieg widmet, enthält er kurze Hilfen für Eltern zum Umgang mit Kindern, die sich der Neonaziszene angeschlossen haben.

Für Eltern ist die Situation oft schwierig: Der Familienalltag wird durch die rechtsextreme Ideologie zur Zerreisprobe und wenn der oder die Jugendliche auch noch in der Öffentlichkeit durch hohen Alkoholkonsum, Gewalt und Straffälligkeit auffällt, isolieren sich viele Familien aus Angst vor Stigmatisierung.

Aus der der Broschüre "Letzter Halt. Ausstieg"

Dem Abrutschen in die Neonaziszene nicht teilnahmslos zusehen

Felix Eitel von einer Landesfachstelle in Rheinland-Pfalz (s.u.) spricht von einem „Karussell“, in dem die Eltern steckten und den „Überblick und die Handlungsfähigkeit“ zu verlieren drohten. Auf der Homepage der in Berlin-Lichtenberg angesiedelten Selbsthilfegruppe Elterninitiative gegen rechts beschreibt eine Mutter, wie wichtig für sie in solchen Situationen „der Austausch mit anderen, die Diskussion von Erfahrungen, das Abwägen von Argumenten und Reaktionen, vor allem aber das Gefühl, nicht allein und hilflos zu sein,“ war.

Die Familie, deren Kind sich unterdessen der Braunszene angeschlossen hat (s.o.), umschreibt die Situation, als sie nach langem Suchen kompetente Ansprechpartner fand, so:

Ein Aufklärungsgespräch ist sehr hilfreich. Es gibt ja keine Patentlösung, aber mit jemandem zu kommunizieren, der die Probleme kennt, erleichtert die Sache etwas.

Hilfe fand die Familie seinerzeit nicht bei kirchlichen oder staatlichen Stellen, sondern bei Exit, einer Privatinitiative. Das Angebot wurde seit Herbst erweitert und bietet nun ganz konkret Familienhilfe an. Exit-Gründer Bernd Wagner sagt aber ebenso, dass die Probleme der Familien rechtsextremer Jugendlicher oft nicht präsent seien. Zumindest in Westdeutschland gebe es zu wenige gut ausgebildete Mitarbeiter für solche Hilfsprojekte.

In Braunschweig (Niedersachen) gab es jedoch ein bei der Arbeitstelle Rechtsextremismus & Gewalt angesiedeltes Eltern-Projekt, das Ende 2006 ausgelaufen ist und nur „im Rahmen der Möglichkeit“ am Leben erhalten wird. Arug-Leiter Reinhard Koch sagt zudem, man habe in diesem Bereich „Pionierarbeit“ geleistet, rund hundert Eltern seien bisher von der Arug betreut und beraten worden. Die Spannbreite reicht dabei von einer Erstberatung am Telefon, einer langfristigen Betreuung und der Moderation oder dem Aufbau einer Selbsthilfegruppe wie in Walsrode (Homepage derzeit inaktiv).

Was die Arug mit ähnlichen Initiativen eint, sind Kürzungen von Fördermitteln. Koch sagt denn auch, derzeit könne man wegen „eingeschränkter Ressourcen“ nur regional neue Fälle auch vor Ort zu betreuen versuchen. Man nehme aber weiterhin alle telefonischen Anfragen entgegen und werde versuchen, Betroffene weiter zu vermitteln an Initiativen, Beratungsstellen oder fachlich spezifizierte Jugendhilfen, die in den Regionen der Betroffenen liegen.

Im rheinland-pfälzischen Landesjugendamt dient eine Elterninitiative gegen Rechts als zentrale Anlaufstelle. Ähnlich wie die Arug will man Betroffenen kurz- oder langfristige Hilfe anbieten oder vermitteln. Seit dem Jahr 2004 habe man rund siebzig Familien beraten, sagt Felix Eitel von der Landesinitiative. In fast allen Fällen habe er als Fachkraft Betroffene auch zu persönlichen Gesprächen aufgesucht.

Eitel hat mitgeholfen, zwei Selbsthilfegruppen zu gründen und verweist darauf, dass interessierte Eltern anfangs intensive Vorgespräche führen mussten, damit nur wirklich Betroffene zu den Selbsthilfegruppen stoßen konnten. So habe man vermeiden wollen, dass getarnte Rechtsextreme sich einschleichen, denn diesen sind solche Projekte ein Dorn im Auge. Unterdessen, sagt Eitel, seien die beiden Elternselbsthilfegruppen nicht mehr richtig aktiv, was an den unterschiedlichen Fortentwicklungen in den jeweiligen Familien liege. Selbsthilfegruppen scheinen derzeit ohnehin noch eine Ausnahme zu sein. Neben den erwähnten gab es offenbar nur noch eine solche in einer bayerischen Kleinstadt.

Eitel sagt, prinzipiell werde versucht, allen Betroffenen in Rheinland-Pfalz, die sich melden, zu helfen, um die Dinge „bedürfnisorientiert“ anzugehen. Aktuell versuche man auch, Eltern zu sensibilisieren, deren Kinder noch nicht in gefestigte rechte Strukturen abgerutscht seien. Meldeten sich etwa Eltern von Kindern, die in gerade entstehenden, rechten Cliquen im ländlichen Raum verkehrten, rege man an, dass die Eltern der betroffenen Kinder und Jugendlichen zueinander Kontakt aufbauen und sich austauschen sollten. Nach Möglichkeit unterstütze er diese Elterngruppen dann bei Treffen persönlich. Eitel sagt, wichtig sei es, dass der Rechtsextremismus „nicht alles bestimmen darf im Familienleben“. Es müsse, auch wenn es schwer falle, „Freiräume“ für „heilsame Prozesse“ geben, in denen man das eigene Kind etwa wegen guter Schulleistungen oder Erfolge in der Ausbildung lobe. Eitel nennt es das Trennen zwischen „Orientierung und Persönlichkeit“.

Auch Exit rät Eltern dazu, das eigene Kind nicht aufzugeben und dem Abrutschen in die Neonaziszene nicht teilnahmslos zuzusehen. Eltern müssten sich damit auseinandersetzen, wie das Kind nun denkt und wie es handelt. Wichtig sei, mit ihm im Dialog zu bleiben und ihm einen Weg zurück in die Mitte der Gesellschaft offen zu halten. Soweit möglich sollten Eltern auch mit den Kindern deren Ansichten diskutieren und auf Widersprüche hinweisen. Dabei, so Exit, müssten jedoch klare Regeln gesetzt werden. Anders als ein Lob für gute Noten müsse man menschenverachtenden Ansichten widersprechen und gegebenenfalls im Zusammenleben unterbinden.

Und wie kann derlei in der Praxis aussehen, selbst dann, wenn sich das Kind mit seinen Äußerungen zurück hält? Neonazis spielen provokativ mit Symbolen, auch, um einer strafrechtlichen Verfolgung auszuweichen. Natürlich ist es vordergründig nicht verboten, wenn das rechtsextrem denkende Kind am Mittagstisch in einem T-Shirt mit dem Aufdruck „88“ erscheint. Eltern können dies ignorieren und so tun, als wüssten sie nicht, was es bedeutet, nämlich ein Zahlencode für die Doppelung des achten Buchstaben im Alphabet, meint „Heil Hitler“. Eltern könnten aber dann auch deutlich machen, dass einem das Mittagessen nicht schmeckt, wenn man permanent auf den getarnten Nazigruß schauen muss – und an die Gräuel des Nationalsozialismus erinnert wird.