Wie die Armenier in Bergkarabach die Schockwellen des Ukraine-Kriegs spüren

Seite 2: Die komplexe geopolitische Lage im Südkaukasus

Zweieinhalb Jahrzehnte wurde dann erfolglos verhandelt, unter der Schirmherrschaft der sogenannten Minsk-Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), in der die USA, Frankreich und Russland gemeinsam den Vorsitz führen. Mit der militärischen Unterstützung der Türkei und Waffenlieferungen aus Israel startete Baku 2020 schließlich den Großangriff zur Rückeroberung des umstrittenen Gebiets.

Die geopolitische Lage rund um den Bergkarabach-Konflikt ist komplex. Seit Langem konkurrieren die Türkei und Russland im Südkaukasus um regionale Hegemonie. Nach dem Einmarsch in die Ukraine suchte Moskau jedoch verstärkt die diplomatische Nähe zu Istanbul, als Gegengewicht zum Westen.

Das verkleinerte den Handlungsspielraum Russlands im Konfliktgebiet. Schließlich kam man seinen Verpflichtungen im Waffenstillstand, der auf den 2020-Krieg folgte, nicht mehr nach, worauf sich die armenische Regierung zunehmend von Moskau distanzierte. Sie geht nun auf die Suche nach neuen Sicherheitspartnern. Kurz vor der militärischen Eskalation hielten armenische Truppen gemeinsame Manöver mit der US-Armee in Armenien ab.

Die USA und die EU haben den jüngsten Angriff Aserbaidschans zwar verurteilt und fordern die aserbaidschanische Regierung auf, den Schutz der Armenier in Bergkarabach zu garantieren. Aber wie Russland, bemüht, die Spannungen zwischen Armenien, der Türkei und Aserbaidschan für die eigenen Interessen auszubalancieren, ist der Westen tief verstrickt in sich widersprechenden Einstellungen.

Bergkarabachs autonomen Status können die USA und die EU-Länder international schwerlich als rechtmäßig anerkennen, was auch merkwürdig anmuten würde angesichts der Verurteilung der Loslösung der Krim von der Ukraine nach Ausbruch der Ukraine-Krise 2014. Zudem will man den Nato-Partner Türkei nicht verprellen.

Und was Aserbaidschan angeht, sind die Gas- und Öllieferungen für die EU zu wichtig, um Baku gegen sich aufzubringen (siehe auch die Aserbaidschan-Connection in der CDU und bei europäischen Politikern), während in den westlichen Öffentlichkeiten aus verschiedenen Gründen mit den Armeniern sympathisiert wird und die Aliyev-Dynastie, eine Form der Erb-Diktatur, wegen seiner politischen Repression immer wieder in den Fokus der Kritik gerät. Anatol Lieven zieht daher den Schluss:

Gefangen zwischen diesen widersprüchlichen, aber tief verwurzelten Impulsen sind die Vereinigten Staaten und Europa wahrscheinlich strukturell nicht in der Lage, eine kohärente und tragfähige Strategie für den Kaukasus zu entwickeln, geschweige denn die Ressourcen und den Willen zu mobilisieren, die für ein entschlossenes Eingreifen in der Region erforderlich sind.

Und Russland fällt als Sicherheitsgarant auf absehbare Zeit wohl aus. In dieser Hinsicht bekommen die Armenier im Südkaukasus auch die Schockwellen des Ukraine-Kriegs zu spüren.