Wie die Nato neue globale Regeln schafft
Seite 2: Atommacht Nato
Die neue Aufgabe der Krisenbewältigung weitete nicht nur den territorialen Horizont der Einsätze über die Bündnisgrenzen hinaus, sondern vervielfältigte auch die Art, die Gefahren und die Bedrohungen durch Krisen, auf die reagiert werden musste. So sollte rechtzeitig zum 60-jährigen Jubiläum des Bündnisses im April 2009 eine neue Überarbeitung des Strategischen Konzeptes der Nato verabschiedet werden.
Eine hochrangige Gruppe von Militärs, zu der auch der ehemalige Vorsitzende des Nato-Militärkomitees, Klaus Naumann, gehörte, erarbeiteten dazu Vorschläge, die den Aktionsradius erweitern und die Schlagkraft erhöhen sollten.5
Vor allem ging es um das Atomwaffenprogramm des Iran, welches unbedingt verhindert werden muss. In dem Papier, das die Gruppe vorlegte, heißt es (S. 45):
Eine iranische Nuklearwaffenkapazität wäre eine außerordentliche strategische Gefahr. (Das Land) würde damit eine Region dominieren, die über große Öl- und Gasreserven verfügt.
Und weiter (S. 95ff.):
Die Gefahr einer weiteren Verbreitung ist akut. … Diese Entwicklung muss unter allen Umständen verhindert werden. … Der Ersteinsatz von Nuklearwaffen muss im Arsenal der Eskalation das ultimative Instrument bleiben, um den Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu verhindern.
Und der Büroleiter des damaligen EU-Außenberaters Javier Solana, Robert Cooper, wird mit den Worten zitiert6:
Vielleicht werden wir eher als alle anderen Atomwaffen einsetzen, aber ich würde mich hüten, das laut zu sagen.
Man stelle sich den Wahnsinn vor, die Verbreitung von Atomwaffen durch den Einsatz von Atomwaffen zu verhindern. Als wenn es nie ein Gutachten des IGH gegeben hätte, welches gerade 12 Jahre zuvor den Besitz und den Einsatz von Atomwaffen für rechtswidrig erklärt hatte. Auch das Schlupfloch, welches die Richter gelassen hatten, da sie sich nicht entscheiden konnten, ob der Einsatz von Atomwaffen bei einer existentiellen Bedrohung erlaubt sei, legalisiert eine solche Ersteinsatzstrategie nicht.
Die Nato hat sich von dieser Perspektive nie distanziert, ihre Vormacht USA vertritt den Ersteinsatz von Atomwaffen ohnehin offiziell. Die USA haben ihre Atomwaffen in fünf Nato-Staaten stationiert. Ein Abzug wird nicht diskutiert. Auch das Konzept der "nuklearen Teilhabe", welches die Stationierungsstaaten nicht nur in die Planung, sondern auch in den Einsatz der Waffen einbezieht, steht nicht zur Debatte.7 Damit wird die Nato faktisch zur Atommacht.
Counter-insurgency gegen "irreguläre Aktivitäten"
Fast jede strategische Äußerung der Nato beginnt mit der Entfaltung eines Tableaus neuer Gefahren, Krisen und Bedrohungen. So auch eine neue 2010 beschlossene Doktrin für militärische Kriseneinsätze, die nicht unter Art. 5 Nordatlantikvertrag fallen.8 Die Diagnose ist nicht neu, wenn es darin heißt:
Unsicherheit und Instabilität im Euro-Atlantischen Raum und um ihn herum, regionale Krisen in der Peripherie der Allianz, die sich schnell entwickeln könnten. Einige Länder im und um den Euro-Atlantischen Raum herum sehen sich ernsthaften wirtschaftlichen, sozialen und politischen Schwierigkeiten gegenüber. Ethnische und religiöse Rivalitäten, territoriale Streitigkeiten, unzureichende oder gescheiterte Reformversuche, der Missbrauch der Menschenrechte und die Auflösung von Staaten können zu lokaler und sogar regionaler Instabilität führen.
Die daraus resultierenden Spannungen könnten zu Krisen führen, die die Euro-Atlantische Stabilität gefährden, zu menschlichem Leid und zu bewaffneten Konflikten. Solche Konflikte könnten die Sicherheit der Allianz betreffen, indem sie in benachbarte Länder überschwappen, einschließlich Nato-Länder, oder sie könnten in anderer Art die Sicherheit anderer Staaten betreffen.
Neu ist auch nicht, dass die Nato diesem allgemeinen, im Prinzip grenzenlosen und vollkommen unspezifischen Krisenszenario mit Maßnahmen entgegentreten soll, die sich weder an Artikel 5 Nato-Vertrag noch an das Gewalt- und Interventionsverbot des Art. 2 Ziff. 4 und Ziff. 7 Uno-Charta halten müssen. Der Verweis auf Art. 7 des Nato-Vertrags, der "die in erster Linie bestehende Verantwortlichkeit des Sicherheitsrats für die Erhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit" betont, ist in diesem Zusammenhang ein plumpes Täuschungsmanöver.
Neu ist hingegen, dass die Nato in Zukunft auch "irregulären Aktivitäten" begegnen soll. Darunter versteht sie "die Nutzung von Bedrohung, von Gewalt durch irreguläre Kräfte, Gruppen oder Individuen, die oft ideologisch oder kriminell motiviert sind, um Wandel zu erreichen oder zu verhindern als Herausforderung von Regierungsfähigkeit und Autorität." Es wird kein Unterschied zwischen Aufständischen und Terroristen gemacht.
Die Nato begibt sich damit in den klassischen counter-insurgency-Kampf, wie wir ihn aus den Kriegen gegen den Vietcong in Vietnam und die Sandinisten in Nicaragua kennen. Sie erweitert damit ihren Horizont für militärische Operationen weltweit und ermächtigt sich, faktisch in jede Bürgerkriegsauseinandersetzung der Staaten militärisch einzugreifen.
Die USA haben es 2014 vorgemacht, als sie ohne Sicherheitsmandat und ohne selbst angegriffen worden zu sein, in Syrien in den Kampf des IS gegen die Regierung in Damaskus eingriffen. Präsident Obama erklärte damals – ganz Herr über den völkerrechtlichen Wolken –, dass er sich auch nicht um eine Zustimmung der Regierung in Damaskus für diese Verletzung der syrischen Souveränität bemühen werde.
Die Doktrin hat keine große Aufmerksamkeit erzeugt. Das mag daran liegen, dass die Nato nicht daran interessiert war, diese weltweite Eingriffs- und Kriegsermächtigung allzu laut und offen zu propagieren. Denn sie enthält für alle schwächeren Staaten die unverhohlene Drohung der Intervention, wenn sich deren Politik zu stark von den Interessen der USA und ihrer Verbündeten entfernt oder sich gerade gegen sie stellt.
Wenige Jahre zuvor hatte Carlo Masala vom Nato Defense College die Drohung in die Worte eines humanitären Kolonialismus gekleidet9:
Protektorate sind in. Von Bosnien über Kosovo, nach Afghanistan bis in den Irak, das Muster westlicher Interventionspolitik ist immer dasselbe. Nach erfolgreicher militärischer Intervention werden die "eroberten" Gebiete in Protektorate umgewandelt und die westliche Staatengemeinschaft ist darum bemüht, liberale politische Systeme, Rechtsstaatlichkeit und freie Marktwirtschaft in diesen Gebieten einzuführen.