Wie ein syrischer Religionslehrer die Geschichte von Jesu' Geburt erfand

"Natività" von Lorenzo Monaco (um 1400). Bild: Public Domain

Als der Evangelist Matthäus Gläubige vom neuen Erlöser Jesus überzeugen wollte, brauchte er dazu vor allem eines: eine packende Story. Seine "Weihnachtsgeschichte" bringt die Menschen auch noch heute zusammen

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Zumindest einmal im Jahr ist für viele Menschen hierzulande jedes politische Unheil und der Stress des Alltages vergessen. Dann, wenn sie am Abend des 24. Dezember auf einer Kirchenbank Platz nehmen und gemeinsam der Geschichte von Jesu Geburt lauschen. Ob man den nahöstlichen Prediger persönlich für den Heiland oder für ein Hirngespinst hält, ist dabei ebenso egal wie die kollektive Gewissheit, dass es ganz so, wie es die Kinder zwischen Ochsen- und Jesuspuppe vortragen, nicht gewesen sein kann.

Was zählt ist das Gemeinschaftserlebnis "Besinnlichkeit". Was ist das für eine Story, die selbst 2000 Jahre nach ihrer Entstehung noch die Kraft hat, wildfremde Menschen in gemeinsamer Dösigkeit zu vereinen?

Wer sich auf die Geschichte hinter der Weihnachtsgeschichte macht, der landet zunächst nicht in einem Bethlehmer Stall, sondern im heutigen Syrien. Circa im Jahr 90 nach Christus, also nach heutigen Erkenntnissen rund 60 Jahre nach Jesu tatsächlichem Tod, lebte dort ein Religionslehrer mit seiner kleinen judenchristlichen Gemeinde: der Evangelist Matthäus.

Judenchristen waren Gläubige, die zwar an den neuen Messias glaubten, anders als sogenannte Heidenchristen, aber auch den alten jüdischen Geboten verhaftet blieben. Und genau diesen Spagat aus jüdischer Tradition und neuem Jesus-Glauben versuchte auch Matthäus zu schaffen, als er seiner Gemeinde von der Geburt des neuen Erlösers berichtete. Das Problem daran: Über Geburt und Kindheit dieses Jesus wusste man so gut wie nichts. Die damalige Hauptquelle, das schon seit rund 20 Jahren im Umlauf befindliche Markusevangelium, schwieg sich über dessen erste Lebensjahre völlig aus.

Jungfrauengeburten waren für das damalige Publikum nichts Ungewöhnliches

Matthäus ließ seine Erzählung mit jenem Wunder beginnen, das auch noch jedem Besucher heutiger Krippenspiele geläufig sein dürfte:

Mit der Geburt Jesu Christi war es so: Maria, seine Mutter, war mit Josef verlobt; noch bevor sie zusammengekommen waren, zeigte sich, dass sie ein Kind erwartete - durch das Wirken des Heiligen Geistes.

Matthäus

Warum es ausgerechnet die fantastische Geschichte einer Jungfrauengeburt sein musste, ist schnell erklärt: Matthäus wollte zeigen, dass das Erscheinen Jesu keinen Bruch mit dem Alten Testament darstellte, sondern im Gegenteil sein Auftreten sich zwangsläufig aus den alten Überlieferungen ergab. Und dort hatte der Prophet Jesaja nun einmal angekündigt, dass der Messias von einer Jungfrau geboren werden sollte.

Für das damalige Publikum dürfte die Story weit weniger unrealistisch geklungen haben als für heutige skeptische Ohren. Die sogenannte Theogamie kannte man schon aus ägyptischen Überlieferungen. Dort schwängerte der Wind- und Fruchtbarkeitsgott Amun die jungfräuliche Königsgattin. In der griechischen Antike wurde Danaë mit Perseus schwanger, nachdem sie den Samen des Gottes Zeus als Goldregen empfangen hatte.

Im Mythenreich des persischen Zoroastrismus gebaren Jungfrauen gleich drei Erlöser. Und auch Alexander der Große wurde der Legende nach von einer Jungfrau geboren. Selbst dem Alten Testament ist das Motiv nicht völlig fremd. Die Genesis erzählt vom Beischlaf zwischen Menschentöchtern und Gottessöhnen.

Mit der Geschichte der Geburt Jesu' durch die Jungfrau Maria lehnte sich Matthäus also nicht so weit aus dem Fenster, wie man es heute glauben mag. Im Gegenteil: Er bediente sich eines literarischen Motivs, das sich von Persien bis Ägypten über Jahrhunderte bewährt hatte.

Lieber vom Heiligen Geist schwanger als von einem römischen Soldaten

Warum diese fantastische Geschichte auch in den folgenden Jahrzehnten auf offene Ohren stieß, hatte aber noch einen ganz praktischen Grund: Man entledigte sich damit der schwierigen Frage nach der Vaterschaft Jesu. Noch bis ins zweite Jahrhundert hielt sich das Gerücht, Maria hätte sich in Wahrheit von einem römischen Soldaten namens Panthera schwängern lassen - und das während sie mit Josef schon verlobt war.

Der Messias ein uneheliches Kind einer Fremdgeherin und eines Besatzungssoldaten? Im Vergleich dazu wirkte die Geschichte von der Jungfrauengeburt harmlos.

Matthäus und seine Zeitgenossen wussten wie gesagt nicht viel über die Kindheit ihres Messias. Was sie wussten: Er musste aus Nazareth stammen. So hatte es unter anderem der Evangelist Markus berichtet. Das stellte Matthäus allerdings vor eine echte narrative Herausforderung. Denn der altesttamentarische Prophet Micha hat berichtet, der Messias werde in der Stadt Davids geboren werden. Und das war Bethlehem.

In etwa zur selben Zeit wie Matthäus löste der Evangelist Lukas das Problem durch einen vergleichsweisen simplen erzählerischen Kniff. In der Version von Jesu Geburt, mit der er sich an seine Gemeinde von Heidenchristen wandte, schickt er Maria und Josef von Nazareth zur Volkszählung nach Bethlehem. Matthäus holte hingegen weit aus und erdachte die Geschichte von den "Sterndeutern aus dem Osten":

Als Jesus zur Zeit des Königs Herodes in Betlehem in Judäa geboren worden war, kamen Sterndeuter aus dem Osten nach Jerusalem und fragten: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, um ihm zu huldigen. (…) Und der Stern, den sie hatten aufgehen sehen, zog vor ihnen her bis zu dem Ort, wo das Kind war; dort blieb er stehen.

Matthäus

Die folgende Geschichte geht kurz gefasst so: Die Sterndeuter wollten eigentlich Herodes, der in Roms Auftrag über Judäa, Galiläa und Samaria herrschte, über den genauen Ort von Jesu' Geburt informieren. Doch im Traum werden sie gewarnt, zu ihm zurückzukehren.

Denn dieser fürchtet die Konkurrenz des neuen Königs der Juden und lässt kurzerhand alle Kleinkinder Bethlehems töten. Gerade noch rechtzeitig warnt ein Engel Josef, der daraufhin mit seiner Familie nach Ägypten flieht und nach dem Tod Herodes in seine Heimat zurückkehrt. Da aber über Bethlehem der tyrannische Sohn des Herodes Archelaos herrscht, lassen sie sich in Nazareth nieder.

Magier, Könige oder Weise? Und wenn ja wie viele?

Wegweisende Sterne, fremde Magier, Flucht vor einem Despoten: In seiner Erzählung bedient sich Matthäus gleich einer ganzen Reihe literarischer Motive und zeitgeschichtlicher Ereignisse. Vieles sprich dafür, dass die Figuren der "Sterndeuter", die man auch als "Magier" übersetzen kann, auf realen Personen basieren.

Der Begriff "mágos", den Matthäus verwendet, wurde zu jener Zeit auch für zoroastrische Priester benutzt und eben solche sollen zu Matthäus Lebzeiten tatsächlich durch die Region gereist sein, um dem römischen Kaiser ihre Ehrerbietung zu machen.

Dass aus ihnen Könige wurden, dauerte allerdings noch bis ins 3. Jahrhundert. Die Umdeutung begann vermutlich mit dem Kirchenschriftsteller Tertullian. Dieser schrieb, die Magier seien fast wie Könige aufgetreten. Die Bezeichnung "Weise aus dem Morgenland" kam noch einmal deutlich später hinzu: in Luthers Bibelübersetzung.

Auch die Zahl drei findet sich nicht in der Bibel. Vermutlich entstand sie in Anlehnung an die drei Geschenke Gold, Weihrauch und Myrrhe, die die Magier Jesus übergaben. Allesamt übrigens nicht unübliche Geschenke für einen antiken König. Aber noch bis ins 19. Jahrhundert lassen sich auch Darstellung von vier oder zwei Königen finden.

Immer wenn etwas Wichtiges am Boden geschah, blitzte, funkelte oder verdunkelt sich etwas am Himmel

Darüber, was es mit dem Stern auf sich hat, debattierten Gelehrte noch bis in die Neuzeit. Heute gelten alle Theorien, wonach hinter ihm ein reales astronomisches Ereignis steckte - wie z.B. der Halleysche Komet - als wissenschaftlich nicht haltbar. Sicher ist hingegen: Die Idee, irdischen Ereignissen mittels kosmischer Erscheinungen zu überirdischer Relevanz zu verhelfen, war keine, die sich Matthäus neu ausdenken musste. Ob in Altägypten, Mesopotamien oder Persien: Wenn in den Legenden des Altertums etwas Wichtiges am Boden geschah, blitzte, funkelte oder verdunkelte sich häufig auch etwas am Himmel.

Auch die Antike kennt dieses Phänomen: Am ersten Todestag Julius Caesars soll ein Komet über sieben Tage geleuchtet und damit die Aufnahme der Seele des Kaisers in den Himmel bezeugt haben. Die Bibel kennt solche Geschichten ebenfalls: In der Prophezeiung des Joel heißt es: "Die Sonne soll in Finsternis und der Mond in Blut verwandelt werden, ehe denn der große und schreckliche Tag des Herrn kommt." Und rund 20 Jahre vor Matthäus ließ Markus als Ankündigung des Jüngsten Gerichts, Sterne vom Himmel fallen.

Eine Geschichte, die so mächtig ist, das sie auch 2000 Jahre noch Kirchenbänke füllt

Eine Frage nach den Ursprüngen der Weihnachtsgeschichte, kann der Blick ins Matthäus-Evangelium und in die literarischen Traditionen des Altertums allerdings nicht beantworten: Woher stammen Ochs und Esel? Von beiden ist im Neuen Testament keine Rede. Vermutlich kamen sie erst hunderte Jahre später hinzu. Im wahrscheinlich Anfang des 7. Jahrhunderts entstandenen "Pseudo-Matthäus-Evangelium" heißt es:

"Am dritten Tag nach der Geburt des Herrn verließ Maria die Höhle und ging in einen Stall.
Sie legte den Knaben in eine Krippe, und ein Ochse und ein Esel beteten ihn an."

Bleibt die Frage: Wozu der ganze Aufwand? Die Antwort führt zurück auf heutige Kirchenbänke. Für Matthäus und seine kleine Gruppe von Judenchristen waren es stürmische Zeiten. Im Krieg gegen die römischen Besatzer hatten Hunderttausende Juden in den Jahrzehnten zuvor ihr Leben verloren. Die alte Welt lag in Trümmern und der neue Glaube war noch lang nicht etabliert. In dieser Situation versuchten Matthäus und andere die brüchige Identität ihrer Gemeinden zu stärken: nicht mit Gewalt oder Gesetzen, sondern mit Geschichten.

Das Ergebnis ist eine Erzählung, die dazu beitrug, das aus der spärlichen Anhängerschaft eines nahöstlichen Predigers eine Weltreligion wurde. Die schafft es als "Weihnachsgeschichte" selbst 2000 Jahre später noch Kirchenbänke zu füllen.