Wie hat sich der Islamische Staat auf das Ende des "Kalifats" vorbereitet?

Seite 2: Eine islamistische Doomsday-Sekte?

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Was also hat der IS angestrebt? War die Führung wirklich der Überzeugung, eine Art islamistischen Staat gründen und längere Zeit verteidigen zu können, um irgendwann möglicherweise als De-facto-Macht anerkannt zu werden? Letztlich hat der IS mit seiner unerbittlichen und inszenierten Grausamkeit, aber auch mit seinen Aufrufen zu Anschlägen im Westen dafür gesorgt, dass er möglichst viele Feinde bekommt. Hat der IS also nicht nur Hunderte und Tausende in Selbstmordanschläge getrieben, sondern ist er selbst eine Art Doomsday-Sekte, die alles dafür macht, um den Untergang zu bewerkstelligen, möglicherweise mit dem Plan, die ganze Welt mit sich zu ziehen? Statt der Utopie eines muslimischen Paradieses auf Erden also das Streben nach dem großen Verbrechen?

Die Zeit der großen Propaganda-Bilder ist vorbei, der IS verbreitet deutlich weniger Bilder von angeblichen Kämpfen wie hier bei Raqqa.

Systematisch hat der IS wohl dahin gearbeitet, die Welt in ein Wir und Sie zu spalten. Bündnisse ging der IS nicht ein, Deals machte er höchstens im Geheimen. Es ging darum, die muslimische Kraft zu sein, die die einzige Avantgarde ist und nichts neben sich duldet. Das eben führt zu einem Endkampf zwischen dem IS und dem Rest der Welt, den aber der IS nur verlieren konnte, weil er schlicht zu asymmetrisch ist und der Rest der Welt zahlenmäßig und waffenmäßig überlegen ist, auch wenn die Kämpfe gezeigt haben, wie schwer sich weit überlegene Militärmächte tun, zu allem entschlossene Rebellen, die ihr Leben auch in völlig unsinnigen Aktionen einsetzen, zu besiegen, wenn sie kein Massaker begehen wollen, was sie vollends auf dieselbe Stufe mit den Terroristen stellen würde.

Der IS hat den Virus seiner gewalttätigen Ideologie bereits erfolgreich in Afrika, im Nahen Osten und in Asien verbreitet, er konnte auch Menschen im Westen anstiften, sich sinnlos in Selbstmordanschlägen zu töten oder zu verausgaben, indem sie beliebig andere Menschen mit sich reißen. Die Frage ist wohl weniger, ob der IS versucht, das "Kalifat" in andere Länder zu verlegen, nachdem er es trotz der anstehenden Niederlage geschafft hat, durch seine menschenverachtende Radikalität zu der Organisation zu werden, die von vielen Ländern als Hauptfeind in einem Endkampf angesehen wird. Bei aller Asymmetrie wachsen dadurch die Bedeutung und die Prominenz.

Das könnte heißen, der IS ist weniger eine religiöse Bewegung, sondern in Fortsetzung der anarchistischen Propaganda der Tat ein Medieneffekt in der Aufmerksamkeitsökonomie, in der ein Spektakel nach dem anderen inszeniert werden muss. Die erzielte Prominenz ist der Einsatz, dafür zahlt man mit dem eigenen Leben und dem möglichst vieler anderer. Die Prominenz verglüht im Augenblick der Explosion. Aber sie muss immer wieder ohne Unterbrechung als Kontinuum der Plötzlichkeit erzeugt werden, die sich bei den anderen Menschen, die sich an das Leben und die Selbsterhaltung klammern, als Angst äußert: "Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod." Dagegen anzutreten ist in einer Konsum- und Karrieregesellschaft schwer, wenn nicht unmöglich.