Wie sich ein Akademiker ein ungerechtes System zurechtbiegt

Seite 3: Einfach genial - oder genial falsch?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Riedlberger wundert sich infolge darüber, dass dieser Aspekt "gerne in der Berichterstattung weggelassen wird". Die Tatsache, dass nur er diese Zahleninterpretation vornimmt und kein anderer, dürfte vor allem darin begründet sein, dass nur er diesem riesigen Missverständnis zum Opfer fällt: dass seine Rechnung seinen eigenen Standpunkt nämlich gerade widerlegt und nicht stützt. Das Bildungssystem, das Riedlberger hier verteidigt, ist ein Bildungssystem, in dem Kinder von Akademikern mehr als dreimal so hohe Chancen für ein Hochschulstudium haben wie Kinder von Nicht-Akademikern. Diese Zustände als unproblematisch darzustellen, führt gerade zur Reproduktion der bestehenden sozialen Benachteiligung, nicht zu deren Überwindung.

Wem die hier angestellten Überlegungen zu kompliziert sind, der kann den Hauptfund, den sogenannten Bildungstrichter der sozialen Selektion des deutschen Bildungssystems, anhand dieser Grafik nachvollziehen:

Bild: 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks/HIS-HF, S. 112

Schematische Darstellung sozialer Selektion - Bildungsbeteiligung von Kindern nach Bildungsstaus und Elternhaus in Prozent: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein in einer Akademikerfamilie geborenes Kind ein Hochschulstudium beginnt ist 3,4-mal so groß wie die Wahrscheinlichkeit, dass ein in einer Arbeiterfamilie geborenes Kind ein Hochschulstudium beginnt.

1: Fachoberschule, Berufsoberschule, technische Oberschule, Berufs(fach)schule, Fachakademie (Bayern),Berufsakademie, Schule des Gesundheitswesens, Berufsvorbereitungsjahr, Berufsgrundbildungsjahr. 2: Allgemeinbildende Gymnasien, Gesamtschulen, Fachgymnasien.

Riedlbergers Büchse der Pandora

Riedlberger pickt sich dann einen Kommentar aus dem Telepolis-Forum heraus, den seiner Meinung nach "mit weitem Abstand verstörendsten Beitrag in der gesamten Debatte". Anstatt sich dazu direkt im Forum zu äußern, bezeichnet er nun aus sicherem Abstand den Vorschlag, man könne die familiäre Bildungsherkunft Studierender ja in bestimmten Bewerbungssituationen erheben, als "Büchse der Pandora". Dies könnte auch unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Standards und des Datenschutzes geschehen. Riedlberger erklärt nicht, was ihn an diesem Vorschlag so verstört, sondern fragt nur rhetorisch: Wo soll das alles enden? Dass man als Nächstes auch nach Religion und sexueller Identität fragt?

Das wirft die Frage auf, ob es denn Belege dafür gibt, dass Studierende aufgrund ihrer Religion oder sexuellen Identität benachteiligt werden. Riedlberger nennt dafür keine. Es bleibt also reine Spekulation - anders als im Beispiel des familiären Bildungshintergrunds, für den es überzeugende Belege gibt, wie wir gesehen haben. Wenn Riedlberger also die Frage aufwirft, wohin das denn führe, wenn man zum Beispiel in Bewerbungssituationen auf diesen Aspekt achte, dann können wir ihm getrost antworten: dass man sich des Problems bewusster wird, dass Institutionen nachvollziehen können, ob bei ihnen soziale Selektion vorgenommen wird, kurzum, dass sich an der Situation benachteiligter Menschen etwas hin zum Besseren verändert.

Der schwarze Peter: Die anderen sind schuld!

In seinem Versuch der Erklärung, "wovon Arbeiterkinder wirklich profitieren würden", zielt Riedlberger schließlich auf die Schulen. Dort verortet er das Problem: "Ob Kinder von Nicht-Akademikerfamilien studieren oder nicht, hat viel mehr mit der Schule als mit der Universität zu tun." Natürlich: kein Hochschulstudium ohne Hochschulreife. Tatsächlich berichtet die Sozialerhebung auch hierzu Zahlen, dass nämlich im Jahr 2009 die Wahrscheinlichkeit, die gymnasiale Oberstufe auf einer weiterführenden Schule zu besuchen, für Kinder von Akademikern beinahe doppelt so hoch war wie für Kinder von Nicht-Akademikern. Der Unterschied ist dort schon deutlich ausgeprägt (79% gegenüber 43%), jedoch noch nicht so stark wie später an den Hochschulen selbst.

Die Tendenz, die jeweils vorherige Bildungsstufe für die Selektion zur Verantwortung zu ziehen, wurde schon vorher beschrieben: Die Hochschulen würden auf die Vorselektion an den Gymnasien zeigen, die Gymnasien auf die Vorsortierung an den Grundschulen, und so weiter. Gleichzeitig mit dem Verschieben des Problems lässt sich auch die Verantwortung weit von sich weisen. Damit ist freilich nichts gewonnen, während die soziale Selektion im deutschen Bildungssystem uneingeschränkt weitergeht.

Die Menschen sind nicht gleich - aber gleichwertig

Freilich muss nicht jeder Mensch ein Hochschulstudium absolvieren oder gar eine Promotion abschließen (geschweige denn, zwei!). Jeder Mensch sollte aber unabhängig von familiärem Bildungshintergrund, Herkunft oder Geschlecht die gleichen Chancen haben, Erfolg im deutschen Bildungssystem zu haben. Die besten zur Verfügung stehenden sozialwissenschaftlichen Ergebnisse deuten daraufhin, dass dies bei Weitem nicht der Fall ist.

Auch wenn die Meinungen über die konkreten Ursachen und die Problemlösungen auseinandergehen, stellt ein destruktiver, polemischer und argumentatorisch oberflächlicher Umgang mit den Daten und Lösungsvorschlägen eine weitere Gefahr für die Benachteiligung derjenigen dar, die heute schon benachteiligt werden. In dieser Hinsicht hat das doppelt promovierte Arbeiterkind Riedlberger den zukünftigen Kindern aus Nicht-Akademikerfamilien meiner Meinung nach einen Bärendienst erwiesen.

Stephan Schleim studierte Philosophie und Psychologie und ist promovierter Kognitionswissenschaftler sowie Hochschuldozent an der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften an der Universität Groningen (Niederlande). Er wuchs im Haushalt eines Anlagenwärters und einer Sekretärin auf.