Wie stehen die Chancen um einen Frieden in der Ukraine?

Seite 2: Was könnte die USA dennoch bewegen, einen Verhandlungsfrieden mit Russland zu suchen?

Das könnte sich aber ändern. Die US-Strategie, Russland in der Ukraine zur Kapitulation zu zwingen, baut auf dem Glauben ihrer überlegenen Waffensysteme, ihrer besseren militärischen Aufklärung und letztlich auch ihrer wesentlich stärkeren Wirtschaftskraft auf. Diese Strategie hat jedoch drei Schwachstellen, die zu einem Einlenken der USA führen könnten:

Nicht Russland, sondern die Ukraine könnte zuerst zerbrechen

Im Ukraine-Krieg liefern die USA und andere Nato-Staaten die Waffen und Munition, die Ukrainer zahlen aber mit ihrem Blut. Es ist ein typischer Stellvertreterkrieg, dessen Erfolg davon abhängen wird, inwieweit die Ukraine diesen durchhalten kann. Obwohl auch Russland schwer von diesem Krieg getroffen ist, scheint es doch wahrscheinlicher, dass die Ukraine zuerst zerbricht. Und das liegt nicht nur an der militärischen Lage.

Der Krieg spielt sich ausschließlich auf ukrainischem Boden ab. Das heißt, dass nicht nur russische Waffen, sondern auch alle vom Westen gelieferten Waffen dazu beitragen, das Land zu zerstören. Inzwischen haben diese Zerstörungen ein katastrophales Ausmaß angenommen.

Bereits vor dem Krieg war die Ukraine eines der ärmsten Länder Europas. Die Lebensbedingungen für die große Mehrheit der Ukrainer ohne Strom und Wasser müssen unbeschreiblich hart sein, gerade jetzt im Winter. Es gibt kaum noch eine funktionierende Wirtschaft und das Land hat den lebenswichtigen Zugang zum Asowschen und Schwarzen Meer verloren.

Die finanzielle Unterstützung des Westens für den inzwischen fast bankrotten ukrainischen Staat werden wahrscheinlich nie den finanziellen Bedarf decken können. So hat die EU für 2023 die Zahlung von 1,5 Milliarden Euro monatlich versprochen, während die ukrainische Regierung zwischen fünf und neun Milliarden monatlich angefragt hatte.

Die Gräben zwischen den westlichen und östlichen Teilen des Landes, zwischen ukrainisch- und russisch-loyalen Ukrainern müssen heute noch tiefer, vielleicht sogar unüberbrückbar geworden sein. Dieser Krieg hatte immer schon Aspekte eines Bürgerkrieges, in dem Donbass-Milizen aus der Ostukraine gegen Asow-Brigaden aus der Westukraine kämpfen.

Hinzu kommen nun noch gesetzliche Beschränkungen der russischen Sprache und Kultur im öffentlichen Raum, die Schließung russischsprachiger Fernseh- und Radiostationen, das Verbot aller politischen Parteien der russischsprachigen Bevölkerungsgruppen, die polizeilichen Durchsuchungen von über 300 russisch-orthodoxen Klöstern, die Ankündigung des Verbots der russisch-orthodoxen Kirche und letztlich die Ermordungen mutmaßlicher Kollaborateure.

Die Ukraine leidet unter einer höchst instabilen Bevölkerungsstruktur. Seit ihrer Unabhängigkeit 1991 ist die Bevölkerungszahl um 20 Prozent gesunken, ein Trend, der sich durch diesen Krieg sicherlich noch verstärkt hat. Seit dem Ausbruch des Krieges sind nach UN-Angaben etwa acht Millionen Ukrainer geflohen, auch dies eine Zahl, die sich durch einen harten Winter noch erhöhen könnte. Zudem leben in der Ukraine etwa sieben Millionen Binnenflüchtlinge, weitere sechs bis sieben Millionen Ukrainer leben heute in von Russland kontrollierten Gebieten.

Unter diesen Bedingungen könnte eine Situation entstehen, in der weitere westliche Waffenlieferungen wenig ausrichten können. Vielleicht auch deshalb hat sich der ranghöchste US-General, Marc Milley, im Widerspruch zu Präsident Bidens erklärter Politik des Durchhaltens, für sofortige Friedensverhandlungen ausgesprochen. Die USA könnten sich eines Tages genötigt sehen, die Reißleine zu ziehen, um einen Zusammenbruch des ukrainischen Staates zu verhindern.

Der Konflikt der USA mit China verschärft sich

China und nicht Russland wird in den USA zunehmend als der große Gegner der Zukunft gesehen. Während der Konflikt zwischen den USA und China an Heftigkeit und Gefährlichkeit zunimmt, könnte der Krieg in der Ukraine sich lange hinziehen, ohne eine militärische Entscheidung zu bringen.

Das kann zu einer Situation führen, in der die USA zu dem Schluss kommen, dass sie sich nicht gleichzeitig einen Konflikt mit Russland und China leisten können. Die US-Entscheidung könnten in diesem Fall darauf hinauslaufen, den teuren, aber wenig Erfolg versprechenden Konflikt mit Russland zu beenden.

Die öffentliche Meinung in westlichen Ländern wendet sich zunehmend gegen den Krieg

In fast allen westlichen Ländern, auch in den USA, sinkt in der Bevölkerung, wenn auch langsam, die Zustimmung zu weiteren Waffenlieferungen. In vielen Ländern gibt es bereits eine Mehrheit, die eine diplomatische Lösung befürworten. Die wirtschaftlichen Auswirkungen werden diesen Trend aller Voraussicht nach noch verstärken.

Mit einem andauernden Krieg dürfte sich auch die zurzeit sehr einseitige Berichterstattung in den meisten westlichen Medien ändern. Berichte über die hohen Kosten dieses Krieges und über die Milliarden an monatlichen Transferzahlungen an die Ukraine werden zunehmen. Damit werden auch kritische Berichte über unkontrollierbare Korruption, den illegalen Weiterverkauf von Waffen und die fehlende Transparenz über den Gebrauch der Transferzahlungen in die Öffentlichkeit kommen.

Schon vor dem Krieg war die Ukraine eines der korruptesten Länder Europas, ein Umstand, der sich in Zeiten eines Krieges wohl eher verschlechtert hat. Und es könnte zunehmend auch Berichte über ukrainische Kriegsverbrechen geben – in einem Krieg bleibt keine Seite sauber. Die öffentliche Meinung im Westen könnte umschwenken und die ständigen Forderungen der ukrainischen Regierung mehr und mehr ablehnen. Damit wäre dann ein Krieg nicht mehr zu gewinnen.

Das Friedensdilemma

Die hier aufgeführten Argumente sind rein machtpolitische Überlegungen, wie sie Großmächte gemeinhin anstellen. Das zu verstehen, wäre wichtig. Aber sie zeigen auch die ganze Perversion dieses Krieges auf und das Dilemma, mit der jede Friedensbewegung konfrontiert ist. Denn kein Mensch sollte hoffen, dass es erst zu einer Zerstörung der Ukraine kommen muss, um über einen Frieden zu verhandeln, und keiner sollte sich eine Verschärfung des Konfliktes mit China, mit der die Gefahr eines weiteren Krieges steigt, wünschen, um in der Ukraine endlich zu einer Friedensvereinbarung zu kommen.

Auch wäre es für die leidenden Menschen in der Ukraine katastrophal, sollte sich die öffentliche Meinung im Westen gegen die Ukraine wenden. Sie werden noch sehr lange eine westliche Unterstützung brauchen – auch und gerade in Friedenszeiten.

Es müsste doch einen anderen Weg zu einem Frieden geben können. Den kann es aber nur geben, wenn wir aufhören zu glauben, dass nur Waffen oder die Annexion fremder Landesteile einen Frieden bringen können; wenn wir akzeptieren, dass die Welt nicht nur dem Westen gehört, es keine alleinige Weltmacht USA geben wird und die Ausweitung der Nato nicht zur Stabilität in Europa beiträgt.

Da Staaten hier versagen, kann nur eine erstarkende Friedensbewegung von Lissabon bis Wladiwostok etwas erreichen. Nur gibt es diese Friedensbewegung nicht – zumindest jetzt noch nicht.

Michael von der Schulenburg, ehemaliger stellvertretender Generalsekretär der Vereinten Nationen, arbeitete über 34 Jahre für die UNO und die OSZE. Dazu gehörten langfristige Einsätze in Haiti, Pakistan, Afghanistan, Iran, Irak und Sierra Leone sowie kürzere Einsätze in Syrien, auf dem Balkan, in Somalia, in der Sahelzone und in Zentralasien. 2017 veröffentlichte er das Buch On Building Peace: Rescuing the Nation-state and Saving the United Nations.

Bei diesem Text handelt es sich um eine für Telepolis überarbeitete Fassung eines Redebeitrags auf dem Kassler Friedensratschlag am 11.12.2022.

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