Wie viele Geisterfahrer sind in Griechenland unterwegs?-

Seite 2: Warum die Wiederauferstehung diesmal in Griechenland stattfinden wird

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Zu den zahlreichen Folgen seiner Sozialisation als Lehrer dürfte auch bei Varoufakis die Fähigkeit zu sehr grundsätzlichen Einsichten gehören. Mit der entsprechend angemessenen pädagogischen Sensibilität erklärt er, warum man das kapitalistische System zunächst vor sich selbst schützen muss. Aus seiner Sicht hat der Kapitalismus im Jahre 2008 einen "globalen Starrkrampfanfall" erlebt. Dieser Anfall habe eine Kettenreaktion ausgelöst, die Europa in eine Abwärtsspirale gestoßen habe. In der aktuellen Lage Europas sieht dieser akademisch gebildete Amtsträger eine "Bedrohung für die ganze Zivilisation".

Nicht nur sein (fast noch) jugendliches Alter scheint ein Grund dafür zu sein, dass sich Varoufakis selbst als besonders engagiert empfindet ("für uns Radikale"). Für ihn steht fest, dass wir gegenwärtig nicht einfach eine weitere zyklische Krise erleben, die überwunden sein wird, sobald die Profitrate nach den unvermeidlichen Lohnsenkungen wieder steigt. Ihm stellt sich die Frage, ob der "generelle Niedergang des europäischen Kapitalismus" als Chance zu begreifen ist, ihn durch ein besseres System zu ersetzen, oder ob man eine Kampagne zu dessen Stabilisierung starten sollte. Für diesen gegenwärtig amtierenden Minister ist die Antwort schon jetzt klar. Die Krise in Europa werde wohl kaum eine bessere Alternative zum Kapitalismus hervorbringen, sondern viel eher gefährliche Kräfte entfesseln, die ein "Blutbad" verursachen und gleichzeitig jede Hoffnung auf Fortschritt über Generationen hinaus vernichten könnten.

Von seinen Schwestern und Brüder im Geiste, den "gutmeinenden Radikalen" fühlt sich der "Radikale Varoufakis" nun als defätistisch beschuldigt. Ihm werde der Vorwurf gemacht, dass er ein sozioökonomisches System in Europa retten wolle, das sich nicht rechtfertigen lasse. Angeblich schmerzt ihn diese Kritik, weil sie nicht nur einen kleinen Kern Wahrheit enthalte. Immerhin teilt Varoufakis die Ansicht, dass die heutige EU grundsätzlich ein "undemokratisches Kartell ist, das die Völker Europas auf einen Weg der Menschenfeindlichkeit, der Konflikte und einer andauernden Rezession geführt hat". Er akzeptiert auch die Kritik, wonach er Politik betrieben habe, die auf der Einschätzung beruht, dass "die Linke" grundsätzlich besiegt wurde und es vorläufig auch dabei bleibt.

Der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis ist ein Marxist, aber ein unorthodoxer. Bild: W. Aswestopoulos

Varoufakis gesteht, dass er lieber ein radikaleres Programm vertreten würde, um den europäischen Kapitalismus durch ein anderes, vernünftigeres System zu ersetzen. Gleichzeitig ist er der Ansicht, dass der Zusammenbruch des "krisengeschüttelten, zutiefst unvernünftigen und abstoßenden europäischen Kapitalismus" trotz all seiner Fehler unter allen Umständen vermieden werden sollte. Mit diesem Bekenntnis sollen Radikale von einem widersprüchlichen Auftrag überzeugt werden. Es ginge darum, den freien Fall des europäischen Kapitalismus zu stoppen, um Zeit für die Formulierung einer Alternative zu bekommen.

Im Rückblick auf sein Engagement im Jahr 2000 für den damaligen Außenminister der sozialistischen Partei Pasok, Giorgios Papandreou, erinnert sich Varoufakis an seine damalige Hoffnung, eine Rückkehr der wiedererstarkten Rechten an die Macht verhindern zu können. Papandreous Partei sei aber nicht nur im Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit gescheitert. Sie habe auch eine strikt neoliberale Politik durchgesetzt, die die "Bail-outs" in der Eurozone einläutete. Dies habe unbeabsichtigt dazu geführt, dass Nazis auf die Straßen von Athen zurückkehrten.

Varoufakis ist Anfang 2006 als Berater Papandreous zurückgetreten und zu einem der heftigsten Gegner seiner Politik geworden, mit der er die Implosion Griechenlands nach 2009 noch verschlimmert habe. Seine öffentlichen Interventionen in die Debatten um Griechenland und Europa hätten keinerlei marxistischen Anstrich gehabt. Gleichzeitig "outet" sich Varoufakis aber als "Marxist". Karl Marx hat die Sicht des Yanis Varoufakis auf die Welt von seiner Kindheit an bis heute geprägt, ein Bekenntnis, das er nicht allzu oft freiwillig in der "guten Gesellschaft" ablege. Nachdem er einige Jahre vor einem Publikum referierte, dessen Ideologie er nicht geteilt habe, sei in ihm aber nun das Bedürfnis gewachsen, offen über den Einfluss von Marx auf sein Denken zu sprechen. Gleichzeitig hält Varoufakis es als "dezidierter Marxist" für wichtig zu erklären, warum er der Theorie von Marx entschieden widerspricht. Er will also im eigenen Marxismus unorthodox und unberechenbar sein.

Varoufakis meint, marxistische Gründe dafür gehabt zu haben, in die "Gedärme" der neoklassischen Theorie einzutauchen und praktisch keine Energie darauf zu verschwenden, ein alternatives marxistisches Modell des Kapitalismus zu entwickeln. Für die Kommentierung der Welt im Gegensatz zur herrschenden Ideologie sah Varoufakis indessen keine andere Möglichkeit, als auf die marxistische Tradition zurückzugreifen, die sein Denken geprägt habe. Varoufakis verdankt Marx angeblich die Einsicht in den ständigen Triumph der menschlichen Vernunft über unsere technischen Mittel und die Natur. Dieser Triumph diene immer auch dazu, die Rückständigkeit unserer sozialen Beziehungen und Institutionen sichtbar zu machen.

Der amtierende griechische Finanzminister ist beeindruckt von der vermeintlich unübertrefflichen Gabe von Karl Marx, ein dramatisches Drehbuch für die menschliche Geschichte zu schreiben, ja für die "menschliche Verdammnis, die durchwirkt war von der Möglichkeit der Erlösung und wirklicher Spiritualität". Varoufakis ist eine Art Augenzeuge des Zusammentreffens von Dr. Faust und Dr. Frankenstein mit Adam Smith und David Ricardo, nahm er doch die "Erzählung" von Karl Marx wahr, die von Arbeitern, Kapitalisten, Beamten und Wissenschaftlern bevölkert ist - dramatische Figuren, die um Vernunft und Wissenschaft im Rahmen einer sich selbst ermächtigenden Menschheit kämpften, während sie, entgegen ihren Absichten, dämonische Kräfte entfesselten, die ihre eigene Freiheit und überwältigten und unterdrückten.

Diese "dialektische Perspektive", in der alles mit seinem Gegenteil schwanger gehe, sowie das scharfe Auge, mit dem Marx die Möglichkeiten für Veränderungen in den unveränderlich scheinenden sozialen Strukturen entdeckte, haben nach den Angaben von Varoufakis geholfen, ihm die großen Widersprüche der kapitalistischen Epoche begreiflich zu machen. So habe sich für ihn das Paradox eines Zeitalters aufgelöst, das den bemerkenswertesten Reichtum und im gleichen Zug unübersehbare Armut produzierte. Varoufakis hat den Eindruck gewonnen, dass angesichts der europäischen Krise, der Verwertungskrise in den USA und der lang andauernden Stagnation des japanischen Kapitalismus die meisten Kommentatoren den dialektischen Prozess vor ihren Augen ("unter ihrer Nase") verkannt haben. Sie hätten zwar den Schuldenberg und die Verluste der Banken erkannt, vernachlässigten aber die Kehrseite der Medaille: den Berg brachliegender Ersparnisse, die aus Angst "eingefroren" seien und nicht in produktive Investitionen verwandelt würden. Der griechische Finanzminister vertritt die Auffassung, dass ihnen eine marxistische Einsicht in Polaritäten die Augen hätten öffnen können.

Der Hauptgrund dafür, warum die "herrschende Meinung" mit der gegenwärtigen Realität nicht zurechtkomme, liege darin, dass sie niemals die dialektisch enge "verbundene Produktion" von Schulden und Kapitalüberschuss, von Wachstum und Arbeitslosigkeit, von Armut und Reichtum, von Spiritualität und Verdorbenheit und tatsächlich von Gut und Böse, von neuen Perspektiven des Vergnügens und neuen Formen der Sklaverei, von Freiheit und Versklavung begriffen hat, während das "Drehbuch von Marx" uns doch auf diese Polaritäten als "Quellen der Listen der Geschichte" hingewiesen habe.

Seit Beginn seines Denkens als Ökonom (wann immer dieses historische Datum feststand) ist dem im Jahre 1961 geborenen Varoufakis eine Entdeckung von Marx bewusst gewesen, die im Herzen jeder sinnvollen Analyse des Kapitalismus bleiben müsse. Gemeint ist die Entdeckung einer weiteren Polarität innerhalb der menschlichen Arbeit. Es geht zum einen um die "Natur" der Arbeit als einer wertschöpfenden Aktivität (Marx: "formgebende Tätigkeit" durch das "Feuer der Arbeit"), die niemals im Voraus quantifiziert und deshalb nicht in eine Ware umgewandelt werden könne. Zum anderen geht es um Arbeit als Quantität, also um verausgabte Arbeitsstunden, die käuflich und mit einem bestimmten Preis versehen ist. Diese doppelte und widersprüchliche Natur unterscheidet die Arbeit angeblich von anderen "produktiven Energieausstößen" wie etwa der Elektrizität.

Nach der Auffassung von Varoufakis hat die politische Ökonomie vor Marx diese "Differenzierung qua Widerspruch" nicht gemacht und die heutige Ökonomie weigere sich hartnäckig, sie anzuerkennen. Er glaubt, dass der Kapitalismus untergehen wird, wenn Arbeiter und Unternehmer jemals alle Arbeit erfolgreich in Waren verwandeln, und hält das für eine Einsicht, ohne die die Tendenz des Kapitalismus, ständig Krisen zu produzieren, nie ganz begriffen werden und die niemand haben könne, ohne "ein wenig" Marx studiert zu haben.

Jede nicht-marxistische Wirtschaftstheorie, die menschliche und nicht-menschliche Produktivität als austauschbare und qualitativ gleichwertige Quantitäten behandelt, setzt in der Wahrnehmung von Varoufakis voraus, dass die Entmenschlichung der menschlichen Arbeit vollendet ist. Aber im Falle der Vollendung würde das Ende des Kapitalismus als eines Systems eintreten, das Werte schaffen und austauschen könnte. Bei einer vom Kapital angeblich ständig angestrebten vollkommenen Quantifizierung der Arbeit, d. Verwandlung zur Ware, wäre die "unbestimmbare, aufsässige menschliche Freiheit" aus der Arbeit ausgetrieben, die erst die Hervorbringung von Wert ermögliche. Darin sieht Varoufakis die "glänzende" Einsicht von Marx in das Wesen der kapitalistischen Krise: Je erfolgreicher der Kapitalismus Arbeit in eine Ware verwandelt, desto weniger Wert besitzt jede Einheit, desto tiefer ist die Profitrate und desto näher die nächste "hässliche" Rezession der Wirtschaft als eines Systems.

Marx wird die "einzigartige" Einsicht zugeschrieben, "Freiheit" als ökonomische Kategorie darzustellen. Sie habe es ihm erlaubt, eine "entschieden dramatische und analytisch genaue" Interpretation des Kapitalismus zu schaffen, der immer wieder aus dem Erfolg des Wachstums Rezession und Depression gebiert. Mit seiner Anerkennung der Arbeit als "lebendiges, formgebendes Feuer" und als "Vergänglichkeit der Dinge" hat Marx nach dem Empfinden von Varoufakis den größten Beitrag zum Verständnis der scharfen Widersprüchlichkeit, die in der DNA des Kapitalismus sitzt, den je ein Ökonom geliefert habe.

Varoufakis scheint auch mit Marx darin übereinzustimmen, dass Arbeit in ihrer Warenform zwar durch Geld zu erwerben ist, aber dass sie immer einen feindlichen Willen gegen den kapitalistischen Käufer behält. Nach dem Verständnis seines jungen griechischen Interpreten hat Marx damit nicht nur eine psychologische, philosophische oder politische Feststellung getroffen, sondern vielmehr eine "bemerkenswerte" Analyse geliefert, warum Arbeit in jenem Moment, in dem sie (als eine nicht quantifizierbare Tätigkeit) diese Feindseligkeit aufgibt, steril und unfähig wird, Wert zu produzieren.

In der Analyse von Marx liege in einer Zeit, in der die Neoliberalen die Mehrheit der Menschen mit ihren "theoretischen Fangarmen" (Produktivitätssteigerung, Wettbewerbsfähigkeitsverbesserung, Wachstumserhöhung) umschließen, ein kraftvolles Gegenmittel. Varoufakis sagt voraus, dass das Kapital in seinem Kampf, Arbeit in eine unbeschränkt biegsame, mechanische Produktivkraft zu verwandeln, niemals gewinnen könne, ohne sich selbst zu zerstören. Dies könnten weder die Neoliberalen noch die Keynesianer verstehen.

Varoufakis verdankt nach seiner eigenen Aussage Marx auch die Werkzeuge, mit deren Hilfe er sich gegenüber der "giftigen" Propaganda der neoliberalen Gegner wirklicher Freiheit und Vernunft selbst immunisiert habe. Das gilt beispielweise auch für die These, dass Reichtum privat produziert und dann durch einen "illegalen" Staat mittels Steuern enteignet werde. Marx habe dagegen "schlagend" gezeigt, dass gerade das Gegenteil zutrifft: Reichtum wird gemeinschaftlich produziert und dann privat angeeignet, und zwar durch die sozialen Beziehungen der Produktion und der Eigentumsverhältnisse, die wiederum zu ihrer Aufrechterhaltung praktisch ausschließlich auf einem "falschen Bewusstsein" beruhen.

Zum Geschichtsverständnis des griechischen Finanzministers gehört auch, dass die zwei politischen Bewegungen, die sich im 20. Jahrhundert auf das marxsche Erbe bezogen (Kommunisten und Sozialdemokraten) zu ihrem eigenen Schaden Marx in einer zentralen Hinsicht nicht folgen. Anstatt Freiheit und Vernunft als die zentralen Schlachtrufe und Konzepte zu übernehmen, entschieden sie sich für Gleichheit und Gerechtigkeit und überließen so das Konzept der Freiheit letztlich den Neoliberalen.

Marx sei hingegen unzweideutig gewesen, indem das Hauptproblem des Kapitalismus nicht in seiner Ungerechtigkeit identifizierte, sondern In seiner Unvernunft, weil er regelmäßig ganze Generationen der Entbehrung und der Arbeitslosigkeit überantworte und sogar Kapitalisten in angstbesetzte Automaten verwandele, weil sie ebenso von den Maschinen versklavt werden, die sie angeblich besitzen. Sie lebten nämlich in ständiger Furcht, dass sie keine Kapitalisten mehr wären, wenn sie ihre Mitmenschen nicht mehr in Waren verwandelten, um die Kapitalakkumulation besser voranzutreiben.

Die bedeutsamste Dimension des neoliberalen Siegs liegt nach der Analyse von Varoufakis im "demokratischen Defizit". In den letzten drei Jahrzehnten der Aufwertung der Finanzmärkte und der Globalisierung habe man "ganze Ströme von Krokodilstränen" über den Verfall unserer großen Demokratie vergossen. Die Empörung über dieses Defizit hätte Marx wohl zum Lachen gereizt. Er wusste schon, dass es das große Ziel des Liberalismus im 19. Jahrhundert war, die ökonomische von der politischen Sphäre zu trennen und die Politik auf letztere zu beschränken, während die ökonomische Sphäre dem Kapital vorbehalten blieb.

Yanis Varoufakis verdankt zwar sein ganzes Verständnis von der sozialen Welt (oder was er dafür hält) "weitgehend" Karl Marx. Er gibt aber an, zornig auf ihn zu sein und hält sich bewusst für einen "unorthodoxen, eigenwilligen Marxisten". Der erste "Irrtum", den Varoufakis Karl Marx vorwirft ist, dass er zu wenig bedacht und verschwiegen habe, welche Auswirkung seine eigene Theorie auf die Welt haben würde, über die er theoretisierte. Marx habe doch die diskursive außergewöhnliche Kraft seiner Theorie gespürt. Varoufakis vermisst bei Marx das Streben nach wirkungsvoller Verbreitung seiner Ideen durch geeignete Arbeiter und Genossen, die ihre eigene Machtbasis hätten aufbauen und einflussreiche Positionen gewinnen können, auch indem sie mit "beeinflussbaren Studentinnen" schlafen.

Den angeblichen zweiten Irrtum von Marx schätzt Varoufakis als schlimmer ein. Es war seiner Meinung nach die Annahme, dass die Wahrheit über den Kapitalismus in den mathematischen Formeln seines Modells entdeckt werden könne. Das sei das Schlimmste gewesen, was er seinem eigenen theoretischen System habe antun können. Marx habe mit vereinfachenden algebraischen Formeln "herumgespielt", in denen Arbeitseinheiten "natürlich" voll quantifiziert waren. Marx habe dabei wider alle Vernunft gehofft, aus solchen Gleichungen zusätzliche Einsichten über Kapitalismus zu gewinnen. Nach seinem Tod hätten marxistische Ökonomen lange Karrieren damit vergeudet, sich einem ähnlichen scholastischen Mechanismus hinzugeben. So seien sie allmählich zu einer beinahe aussterbenden Rasse geworden, während der "neoliberale Moloch" jeden Widerspruch, der im Weg stand, zermalmt hätte.

Varoufakis fragt sich, wie Marx nur so verblendet sein konnte und warum er nicht erkannte, dass keinem mathematischen Modell je die Wahrheit über den Kapitalismus entspringen kann. Der griechische Finanzminister hat die Antwort. Der bedenkliche Grund für diesen Irrtum liege darin, dass er wie die "vulgären Ökonomen", die er so brillant widerlegt habe, die Macht schätzte, die ihm mathematische "Beweise" verliehen hätten.

Varoufakis unterstellt Marx die Fähigkeit einzusehen, dass eine umfassende Werttheorie nicht in den Rahmen eines mathematischen Modells eines wachsenden, dynamischen Kapitalismus eingepasst werden kann. Auch die Markmacht und der Profit von Kapitalisten seien nicht notwendig auf ihre Fähigkeit zu reduzieren, Arbeit aus ihren Angestellten zu pressen.

Marx hätte gegenüber konkurrierenden Stimmen und Richtungen aus der Gewerkschaftsbewegung eingestehen müssen, dass seine Theorie unbestimmt ist und dass seine Erklärungen entsprechend nicht alleinig und eindeutig richtig sind, sondern dass sie ständig provisorisch waren. Varoufakis kann Marx seine Entschlossenheit nicht vergeben, über eine vollständige, geschlossene Geschichte oder ein Modell zu verfügen, also das letzte Wort zu behalten. Sie sei für eine große Zahl von Irrtümern und -wichtiger noch - für Autoritatismus verantwortlich. Daher sei die gegenwärtige Linke so unfähig, eine Kraft für das Gute und ein Hindernis gegen den Missbrauch der Freiheit und der Vernunft zu sein, den die Neoliberalen heute vorantrieben.

Varoufakis hat im zarten Alter von 17 Jahren auch etwas von Margaret Thatcher gelernt. Nach anfänglicher Zustimmung empfand er es als "harte Lektion", dass eine lang andauernde Rezession jede progressive Politik zu untergraben und die Menschenfeindlichkeit ins Gewebe der Gesellschaft zu tragen vermag. Dies hat Varoufakis auch angesichts der gegenwärtigen europäischen Krise nicht vergessen. Diese Lektion sei der wichtigste Faktor bei deren Einschätzung. Deshalb gesteht er auch die Sünde ein, deren ihn einige Kritiker aus der Linken bezichtigen. Gemeint ist die unterlassene Vorlage eines radikalen politischen Programms, das die Krise als Gelegenheit begreift, den europäischen Kapitalismus umzustürzen, die "grässliche" Eurozone aufzulösen und die EU der Kartelle und bankrotten Banker zu untergraben.

Varoufakis würde "liebend gerne" ein solch radikales Programm vorstellen, ist aber nicht bereit, denselben Irrtum zweimal zu begehen. Nach seiner Einschätzung würde ein griechischer oder portugiesischer oder italienischer Ausstieg aus der Eurozone bald zu einer Fragmentierung des europäischen Kapitalismus führen mit einer in einer starken Rezession steckenden Überflussregion östlich des Rheins und nördlich der Alpen, während der Rest von Europa sich in einer unerträglichen Stagflation befände.

Von dieser Entwicklung würde nicht die progressive Linke, sondern würden die verschiedenen Neofaschisten, die Fremdenfeindlichen und die Kleinkriminellen profitieren. Varoufakis ist daher nicht bereit, dieser postmodernen Version der dreißiger Jahre neuen Schub zu verleihen. Er findet sich damit ab, dass die "angemessen unorthodoxen Marxisten" den europäischen Kapitalismus also vor sich selbst retten müssen, nicht aus Liebe zu ihm, für die Eurozone, für Brüssel oder die EZB, sondern weil die menschlichen Opfer dieser Krise gering bleiben sollen.

Europas Eliten erwecken bei dem griechischen Finanzminister den Eindruck, als ob sie weder die heutige Krise verstünden, die sie verantworten, noch deren Konsequenz für sich selbst, geschweige denn für die europäische Zivilisation. Sie hätten "urtümlich primitiv" entschieden, die schwindenden Reserven der Schwachen und der Beraubten zu plündern, um die klaffenden Lücken im Finanzsektor zu stopfen und sie weigerten sich, die Unmöglichkeit der Aufgabe anzuerkennen. Obwohl Europas Eliten angeblich die Augen verschließen und sich in Auflösung befinden, müsse die Linke eingestehen, dass sie schlicht nicht bereit ist, jenen Graben, der sich durch den Kollaps des europäischen Kapitalismus auftun würde, mit einem funktionierenden sozialistischen System zu überbrücken.

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