Wie viele Geisterfahrer sind in Griechenland unterwegs?-

Seite 3: Warum sich in Griechenland Bescheidenheit nicht durchsetzen wird

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Varoufakis sieht sich vor zwei Aufgaben gestellt:

  • Analyse der gegenwärtigen Situation, die auch für Nichtmarxisten, und wohlmeinende Europäer, die vom Sirenengesang des Neoliberalismus verführt werden hilfreich finden.
  • Vorschläge zur Stabilisierung Europas, um die Spirale des Niedergangs zu stoppen, der letztlich nur die Bigotten stärke.

Die Lösung dieser Aufgaben wird mit "Bescheidenheit" angestrebt.1 Der auf 64 Seiten formulierte angeblich bescheidene Vorschlag zur Lösung der Eurokrise war schon vor mehr als fünf Jahren formuliert worden, also zu einem Zeitpunkt als die Finanzkrise in europäische Dimensionen hineinwuchs. Jetzt gilt einer seiner Verfasser (Varoufakis) als "Rockstar".

Es ist müßig darüber zu debattieren, ob das Unbescheidene an dem Büchlein schon im Titel liegt, auch wenn Varoufakis behauptet, dass er in Anlehnung an den irischen Schriftsteller Jonathan Swift gewählt worden sei, der bekanntlich in einer Satire aus dem Jahre 1729 vorgeschlagen hatte, arme irische Kinder zu Lebensmitteln zu verarbeiten, um die Hungersnot zu bekämpfen. Heute werden nach den Erkenntnissen des amtierenden griechischen Finanzministers die Kinder in "Bailoutistan" (Krisenländer in Europa) auf dem Altar der universellen, wettbewerbsorientierten Austerität geopfert. Nur ist diesmal Deutschland und nicht England der Bösewicht.

Wie auch immer: Varoufakis und seine schriftstellenden Mittäter halten sich selbst (zumindest ihre eigenen Vorschläge) auch deshalb für bescheiden, weil sie keine Änderung der europäischen Verträge verlangten und ihre Vorschläge deshalb von heute auf morgen umgesetzt werden könnten:

  1. Rekapitalisierung notleidender Banken durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) durch Erwerb von Anteilen und Finanzierung über deren Verkauf, also Risikoübertragung auf die Gesamtheit der Euro-Länder.
  2. Umschuldung eines Teils der jeweiligen Anleihen von Krisenländern durch die Europäische Zentralbank (EZB) , die ins Risiko ginge und sich beim ESM versicherte und den Krisenländern so Ersparnisse bei Zins und Tilgung ermöglichte.
  3. Finanzierung eines Investitionsprogramms von acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Euro-Zone zur einen Hälfte durch die Europäische Investitionsbank (EIB) und durch den Europäischen Investitionsfonds (EIF) und zur anderen Hälfte durch die EZB über Anleihen (angeblich ein "europäischer New Deal").
  4. Finanzierung eines sozialen Notprogramms (Nahrung, Strom, Heizung, öffentlicher Transport für Arme) zunächst durch Verrechnungssalden ("Target"-Salden) zwischen den europäischen Notenbanken, dh. faktische Inanspruchnahme der Gewinne der Deutschen Bundesbank, der Banque der France und anderer Notenbanken, und später durch Aufkommen aus einer Finanztransaktionssteuer.

Damit werden "in aller Bescheidenheit" die Programme von der EZB bzw. den nationalen Notenbanken finanziert. Es fände nichts anders statt als Staatsfinanzierung durch Gelddrucken. Unabhängig von der Antwort auf die Frage, ob die (wahrscheinlich sinnvolle) direkte Stützung der Banken aus dem ESM für Athen überhaupt nützlich wäre, stehen die Banken dort doch vergleichsweise noch gut da, während die Regierung ihre Angestellten nicht bezahlen kann, fällt auf, dass Varoufakis und seine Schreibgenossen wenige (keine) Worte darüber verlieren, dass in Griechenland eine "hausgemachte" Wirtschaftskrise stattfindet. Sie erwecken so den Eindruck, als ob es nur darum ginge, möglichst viel Geld in die Länder des Südens zu schaufeln. In der Tat stellt sich ungeachtet der lebhaften Phantasie dieses Amtsträgers und seiner sich wissenschaftlich gerierenden Kollegen die Frage, wer bei einem "New Deal" bei Investitionsentscheidungen mitbestimmen soll, ohne dass ein neuer Kreislauf von Bereicherung durch Privilegierte in Gang gesetzt wird?2

Die sachliche Diskussion über diese und andere Fragen wird bedauerlicherweise auch dadurch erschwert, dass es Varoufakis gelungen ist, sich selbst öffentlich sehr wirksam als "Rüpel, Macho und Ökonom" zu inszenieren. Mit seinen jüngsten Selbstdarstellungen als "unorthodoxer Marxist" hat er aber auch seine Fähigkeit zu besonders feiner Dialektik demonstriert: Varoufakis sieht sich einerseits Vorwürfen seiner Freunde ausgesetzt, dass er kein radikales Programm vorgelegt habe, um eben "den europäischen Kapitalismus umzustürzen, die grässliche Eurozone aufzulösen und die Europäische Union (EU) der Kartelle und bankrotten Banker zu untergraben". Andererseits möchte er angeblich gerne so ein Programm vorlegen, behauptet aber zu wissen, dass bei einer weiteren Verschlimmerung der Krise sich die Kräfte der Rechten durchsetzen würde, was er (natürlich) verhindern wolle, will er doch die menschlichen Opfer der Krise möglichst gering halten.

Vor diesem Hintergrund bekommt die demonstrative (angebliche) Bescheidenheit für manche einen anderen Beiklang. Die ach so bescheidenen Vorschläge erscheinen als Ideen eines Mannes, der eigentlich viel Radikaleres will, dies aber für zu gefährlich hält, gleichzeitig aber die Krise seines Landes und die anderer Länder als "Verwertungskrise" des Kapitals empfindet und sich so letztlich den Strukturproblemen verweigert, die eben nur "neoliberal" erklärt werden könnten. Damit wäre aber die Hoffnung auf eine fortgesetzte Mitgliedschaft Griechenlands in der Währungsunion recht gering.3

Vielleicht könnte man es auch anders ausdrücken. Die Sozialisation von Varoufakis als Politiker hat rasend schnell Fortschritte gemacht: Einerseits gibt er vor, genau das Richtige erkannt zu haben, aber von einer feindselig-unvollkommenen und gefährlichen Welt an der Realisierung gehindert zu werden. Das ist die in der Politik übliche Mischung aus Selbstüberhebung, Borniertheit, Eitelkeit, Feigheit und Heuchelei, mit der dem voraussehbaren eigenen Scheitern durch vorsorgliche Schuldzuweisungen vorbeugen will.

Andererseits stilisiert man sich als Hoffnungsträger, wohlwissend, dass man nicht mehr als leere Versprechungen anzubieten hat und andere für die Folgen eigenen Handelns bluten lassen will. Die damit verbundene Ästhetik der Hochstapelei scheint genau so wirkungsvoll wie unausrottbar zu sein. Eigentlich schade. Aber zumindest die Griechen haben Varoufakis verdient. Fraglich bleibt, ob das auch für die restlichen 490 Millionen Bürger der EU gilt.

Wie die tatsächliche Entwicklung in Griechenland gezeigt hat, war die Ankündigung von Varoufakis ernst zu nehmen, dass man sogar auch mit Rechten strategische Allianzen schmieden wolle, da man das einfache Interesse teile, die negative Rückkopplung zwischen Austerität und Krise, zwischen bankrotten Staaten und "zerbrochenen Rücken" zu beenden, die sowohl den Kapitalismus wie jedes progressive Programm untergrabe, das ihn ersetzen will. Varoufakis räumt allerdings ein, dass er zwar gerne bereit sei, ein gemäßigtes Programm zur Stabilisierung eines Systems, das er kritisiert, als "radikal" zu verteidigen, aber er will nicht vorgeben, davon begeistert zu sein. Er sei auch traurig darüber, dass er vermutlich nicht mehr "hier" (auf Erden?) sein werde, wenn ein radikaleres Programm zur Debatte steht.

Sein zweites "Geständnis" ist sehr persönlicher Natur: Er riskiere, heimlich die Trauer zu lindern, die ihn erfasse, da er jede Hoffnung auf die Überwindung des Kapitalismus in seiner Lebenszeit aufgegeben habe. Dies tue er, indem er das Gefühl "züchtet", akzeptabel für die gute Gesellschaft zu werden. Varoufakis räumt immerhin ein, dass in ihm gelegentlich das Gefühl der Selbstzufriedenheit aufgestiegen ist, von den Einflussreichen umhegt zu werden und dass dies ein "unradikales, hässliches, korrumpierendes und zerstörerisches" Gefühle gewesen sei.

Insgesamt glaubt er, dass die zitierten Ausführungen ein "radikales Bekenntnis" gewesen seien, das vielleicht das einzige programmatische Gegenmittel zu ideologischen Rutschpartien sei, die uns zu Rädchen in der Maschine zu machen drohen. Auch im "Bündnis mit dem Teufel" gegen die "Bankruptokratie" will er mit seinen Genossen nicht so werden wie jene Sozialisten, die die Welt nicht zu verändern mochten, aber dabei ihre eigenen Lebensumstände verbessern konnten:

Wir müssen den revolutionären Marxismus vermeiden, der letztlich den Neoliberalen hilft, jeden Widerstand gegen ihre selbstzerstörerische Gemeinheit zu umgehen, und wir müssen uns der inhärenten Hässlichkeit des Kapitalismus bewusst bleiben, während wir, aus strategischen Gründen, versuchen, ihn vor sich selbst zu retten.

Varoufakis

Varoufakis hofft, dass radikale Bekenntnisse dabei helfen mögen, dieses schwierige Gleichgewicht zu finden. Schließlich ist ihm der "marxistische Humanismus" ein ständiger Kampf gegen das, was wir werden.4

Trotz aller aufwändigen und demonstrativen Nachdenklichkeit beseitigen die Ausführungen von Varoufakis, die ganz überwiegend wortgleich mit Darlegungen sind, die er schon vor mehr als zwei Jahren in einem kleinen akademischen Kreis mündlich in englischer Sprache vorgetragen hatte, nicht die verbreitete Ratlosigkeit, die insbesondere im Hinblick auf die finanzielle Verfassung seines Heimatlandes und die notwendigen konkreten und nachhaltig wirksamen Maßnahmen zur Lösung der damit verbundenen Probleme besteht.

Es bleibt zu hoffen, dass Varoufakis nach seinem Amtsantritt seinen anscheinend enormen philosophischen Scharfsinn und seinen hin und wieder zu Tage tretenden Sachverstand in absehbarer Zeit beispielsweise auch für den Aufbau einer halbwegs leistungsfähigen, also mitteleuropäischen Standards entsprechenden Steuerverwaltung einsetzen wird, sind doch die Steuereinnahmen in den ersten zwei Monaten des Jahres 2015 um etwa 50 Prozent gesunken, während die Zinsen für kurzfristige Anleihen in die Höhe schnellen, so dass ein dramatisches Liquiditätsproblem vorhersehbar ist, das man teilweise zu lösen versucht, indem man in die Pensionskassen greift Das wäre einer von mehreren Ansätzen, um den Auftritt eines wirklich revolutionären Marxismus, den Beginn eines Bürgerkriegs, die Wiederkehr einer Militärjunta oder schlicht und einfach das Herausschaukeln der Wiege der Demokratie aus der Währungsunion auch längerfristig zu vermeiden.

Aber: Seminarweisheiten, die sich seinerzeit Studenten der Anfangssemester mühevoll und mehr oder weniger überzeugend herbeidiskutiert haben und die zu den Kinderzeiten dieses Ministers, also Mitte der 1960er und Anfang der 1970er Jahre, hochaktuell waren, können die derzeitigen Probleme innerhalb und außerhalb der Grenzen Griechenlands wohl nicht lösen. Dafür müsste Varoufakis vielleicht doch die Gelegenheit haben, Karl Marx endlich wieder einmal leibhaftig zu sehen, damit Marx diesem hoffnungsvollen Finanzminister alles noch einmal ganz langsam und in Ruhe erklären kann.

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