Wie viele Geisterfahrer sind in Griechenland unterwegs?-

Seite 4: Warum in Griechenland weiter falsch kalkuliert werden wird

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Mit seinem Antrag auf Verlängerung des bis 28. Februar 2015 laufenden Kreditprogramms um vier Monate und der nachfolgenden Liste von Reformversprechungen ist natürlich kein einziges der Probleme gelöst worden, die zu der Hilfsbedürftigkeit Griechenlands geführt haben. Alle Erinnerung an Karl Marx kann nicht mehr verhindern, dass es mehr oder weniger zufällig ("Graccident") zur Verabschiedung des Landes aus der Währungsunion kommen könnte.

Es wächst in Europa der Eindruck, dass die griechische Regierung einen besonderen Ehrgeiz entwickelt hat, sich mit möglichst verwirrenden, widersprüchlichen und geradezu selbstmörderischen Beiträgen zu Wort zu melden. Ministerpräsident Tsipras informiert den Rest Europas beinahe täglich darüber, dass er ein neues Kreditprogramm für unnötig hält und sein Finanzminister kündigt an, dass er die Restsumme aus dem zweiten Hilfspaket nicht akzeptiere, wenn die Konditionen nicht geändert würden, zu denen er sich allerdings erst kurz zuvor verpflichtet hatte. Zudem fällt das Reizwort "Schuldenschnitt" ungefähr alle 48 Stunden. Unterdessen werden im griechischen Parlament munter Gesetze verabschiedet, die wichtige, von der Vorgängerregierung beschlossene Reformmaßnahmen außer Kraft setzen.

Schlimmer noch ist möglicherweise die hinzutretende politische Verhärtung. Griechenland scheint jetzt nicht mehr nur Deutschland als Gegner, wenn nicht "Feind" wahrzunehmen. Jetzt rechnet man offenbar auch Spanien und Portugal diesem Lager zu und behauptet, dass die Regierungen dieser Länder den Sturz der Regierung Tsipras anstrebten.

Der griechische Ministerpräsident scheint sich damit aber verkalkuliert zu haben. Es ist nicht gelungen, Deutschland als einzigen Gegner der griechischen Ambitionen zu isolieren. Die Reihen der gesamten übrigen Eurozone sind geschlossen und Griechenland nimmt aber dennoch seine Selbstisolation einfach nicht wahr. Seine politische Führung scheint nicht mehr von rationalen ökonomischen Kalkülen bestimmt zu sein. Sie hat wohl noch nicht verstanden, dass das "Infektionsrisiko" eines Ausscheidens aus der Währungsunion überschaubar geworden ist und dass die Kollateralschäden beherrschbar sein dürften. In Athen hat man sich möglicherweise noch keine Gedanken darüber gemacht, dass Griechenland überhaupt keine Hilfe mehr zu erwarten hat, wenn der politische Preis für die anderen Euro-Länder in eine unerträgliche Höhe getrieben wird.

Sollte das Verhalten der griechischen Regierung dazu führen, dass in anderen Ländern der Eurozone radikale politische Bewegungen gestärkt werden, ist der Bruch unvermeidlich. Der Erhalt der Eurozone wäre als Selbstzweck nicht vermittelbar. Mit einem Wort: Die Macht der griechischen Regierung endet dort, wo sie die Macht der anderen Regierungen gefährdet.5 Die Folgen sind nur in monographischer Breite zu behandeln. Das ist vor kurzem auch geschehen.6 Hier sind abschließend nur wenige Schlussfolgerungen anzubieten:

  1. Die Unverzichtbarkeit friedenserhaltender europäischer Strukturen und Institutionen ist angesichts der Staatsschuldenkrisen, der militärischen Spannungen in unmittelbarer Nachbarschaft der EU, der internationalen terroristischen Bedrohung und des weltweiten Wanderungsdrucks so deutlich wie nie zuvor geworden.
  2. Nationalistische Egoismen gefährden das erreichte Niveau europäischer Integration.
  3. Europäische Gesinnung ist nicht das Ergebnis kaufmännischer Kalkulation, sondern beruht auf der Einsicht kultureller Zusammengehörigkeit.
  4. Die wechselseitige Unterstützung der EU-Mitgliedstaaten kann mittel- und langfristig nur erfolgreich sein, wenn sie nicht nur mit der Einsicht in ökonomische Notwendigkeiten, sondern auch im Geiste der Freiwilligkeit und mit solidarischer Motivation erfolgt.
  5. Bornierte Erwartungshaltungen und mangelnde Fähigkeit zur Selbstkritik in bedürftigen Ländern werden die Hilfsbereitschaft in den Geberländern der EU verringern und zu einer politischen wie menschlichen Abwendung führen.
  6. Europa benötigt eine besondere, noch zu entwickelnde Kombination wirtschaftlicher Koordination und politischer Führung, die nicht zum Wiederaufleben alter Ressentiments führen darf.
  7. Europa wird nicht scheitern, wenn der Euro scheitert, sondern wenn sich das bisherige Politikversagen fortsetzt, aufgrund dessen es nicht möglich war, die asoziale Unverantwortlichkeit von Teilen der Finanzindustrie und die Inkompetenz einer Vielzahl von Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft rechtzeitig zu kontrollieren, einzudämmen und zu verhindern.
  8. Eine strategische und realistische Vorbereitung auf die Zukunft Europas verlangt klare Entscheidungen, insbesondere im Hinblick auf die Zugehörigkeit Großbritanniens zur EU und die Mitgliedschaft Griechenlands in der Währungsunion.
  9. Die Mitgliedstaaten der EU werden sich über einen Verfassungsentwurf einigen müssen, der eine wirksamere und glaubwürdigere Vereinigung einzelstaatlicher Autoritäten in einem europäischen Bundesstaat ermöglicht.
  10. Die Ausbildung einer Identität als Europäer verlangt eine Annäherung auf allen Ebenen der Politik, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaften, weil die Zusammenführung verschiedener nationaler Eigenheiten und Stärken keine Schwächung je eigener Interessen bedeutet, sondern eine Stärkung des allen Gemeinsamen ist.

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