"Wir hoffen, dass ein wissenschaftliches Denken über Utopie möglich wird"

Seite 2: "Wir können den Kapitalismus nicht einfach abschaffen, sondern müssen ihn aufheben"

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Wie soll der Weg in den Postkapitalismus beschritten werden? Revolution, Reformen oder Transformation? Sie scheinen eine "Aufhebungstheorie" entwickelt zu haben, wie es in Ihrem Buch heißt.

Simon Sutterlütti und Stefan Meretz: Wir können den Kapitalismus nicht einfach abschaffen oder überwinden, sondern müssen ihn aufheben. Aufhebung hat drei Elemente: Bewahrung, Bruch und Weiterentwicklung. Einige seiner Elemente wie z.B. die globale Vernetzung werden wir bewahren können, andere wie erzwungene Tätigkeiten für einen fremden Zweck, Arbeit genannt, werden wir beenden müssen, und bestimmte Produktionsmittel werden wir um- und weiterentwickeln.

Die Aufhebungstheorie setzt sich v.a. kritisch mit den politisch-staatlichen Überwindungstheorien von Reform und Revolution auseinander. Grundlage ist hierbei die Überlegung, dass eine herrschaftliche Struktur - wie der Staat als Gesetzes- und Exekutionsinstitution - keine freie gesellschaftliche Organisation verwirklichen kann. Die freie Gesellschaft lässt sich nicht durchsetzen, sondern muss erlernt, entwickelt, aufgebaut werden.

Deshalb auch unsere Kritik an bestimmten revolutionären Vorstellungen, die die politische Macht erringen wollen, um den Staat zu zerstören. Doch was geschieht am Tag danach? Woher kommt die freie Gesellschaft? Sie fällt nicht vom Himmel, sondern entsteht aus Prozessen innerhalb der vorhergehenden Gesellschaft. Diesen Prozess rückt die Aufhebungstheorie in den Mittelpunkt. Sie fragt weniger danach "Wie können wir die Macht erringen, um alles zu verändern?", sondern eher "Wie kann eine freie Gesellschaft entstehen, und welche Prozesse und Strukturen müssen wir hierfür entwickeln und aufbauen?"

Dabei nimmt die Aufhebungstheorie wichtige Momente von Reform und Revolution auf. Die Reform betont den Prozess und die Kontinuität, die Revolution den Bruch und das Neue. Die Aufhebungstheorie versucht einen Prozess zu denken, der zu einem qualitativen Bruch führt. Denn nur ein Prozess, der eine andere gesellschaftliche Logik - für uns Inklusion, Freiwilligkeit und kollektive Verfügung - enthält, entwickelt und entfaltet, und im Übergang mit der alten Logik bricht, kann eine freie Gesellschaft erreichen. Die freie Gesellschaft wird nicht verordnet, sondern geschaffen, nicht geplant, sondern erlernt - in einem Prozess der menschlichen Selbstentfaltung, ein Prozess, in dem wir gesellschaftliche Bedingungen nach unseren Bedürfnissen gestalten.

"Begreift man den Kapitalismus als versachlichte Herrschaft, dann gibt es nicht 'die' Herrschenden"

Von orthodox-linker Seite könnte Ihnen nun vorgeworfen werden, dass Sie die bestehenden Machtstrukturen und die Klassenverhältnisse im Kapitalismus ignorierten, indem Sie eine Schönwettertheorie entwickelten. Wie beurteilen sie den Widerstand, der solcher graduellen, auf Lernprozessen basierenden Aufhebungsprozess seitens des vermittelten - und gerade deswegen nahezu lückenlosen - Systems kapitalistischer Herrschaft entgegengebracht wird? Oder ist das etwas, was im Verlauf des Krisenprozesses auch in den Zentren erodieren wird?

Simon Sutterlütti und Stefan Meretz: Für manche mag das Ganze nach Schönwettertheorie klingen. Aber wir nehmen nur die zentrale Frage der Emanzipation ernst: Aus welchen sozialen Prozessen kann eine freie Gesellschaft hervorgehen? Und hierfür ist nun mal ein befreiender Aufbauprozess notwendig. Revolution oder Reform mag manchen einfacher erscheinen, aber diese Wege werden uns nirgendwo anders hinbringen als in abgewandelte Formen von Kapitalismus oder Realsozialismus.

Klarerweise muss die nächste Frage sein: Wie ist der Aufhebungsweg unter den derzeitigen Zuständen möglich? Wo liegen hier Möglichkeiten, Schwierigkeiten und Widerstände? Ist solch ein Aufhebungsprozess im Kapitalismus unmöglich, und brauchen wir doch eine Übergangsgesellschaft? Hier sind wir beide uns nicht einig. Während Simon eher auf die subjektive Seite der Aufhebung setzt und betont, dass Menschen andere Lösungen heute suchen und entwickeln können, um aus der umfassenden Herrschaft der Exklusionslogik auszusteigen, hebt Stefan die Bedeutung von System-Krisen hervor: Erst wenn der Kapitalismus erfahrbar nicht mehr die Existenz der Menschen sichert, suchen sie nach anderen Lösungen.

Diese Erfahrung und entsprechende Bewertung ist allerdings ebenso eine subjektive Sache, denn wie lange werden Menschen am Altbekannten festhalten? Das ist unklar, aber unsere Ansicht kommt hier der Verfügbarkeit alternativer Gesellschaftskonzepte, der Utopie, wie wir sie als Inklusionsgesellschaft skizziert haben, eine zentrale Rolle zu. Ohne eine begründete Utopie einer anderen gesellschaftlichen Organisation jenseits der Verwertungs- und Exklusionslogik, geht es in der Krise eher in Richtung Regression und Schließung.

Auch wenn Ihre Frage etwas breiter gestellt ist: Die Frage nach dem Widerstand von wie auch immer definierten Herrschenden kommt häufig. Sie unterstellt, dass der Kapitalismus ein System personaler Herrschaft wäre. Begreift man den Kapitalismus aber als versachlichte Herrschaft, dann gibt es nicht "die" Herrschenden, sondern Menschen, die an unterschiedlichen Stellen in unterschiedlichem Ausmaß strukturell privilegiert sind. Dann aber gehören wir auch dazu, dann gibt es keine klar geschiedenen Seiten der Herrschenden und Beherrschten, dann geht Herrschaft durch uns hindurch.

Das sehen wir deutlich, wenn wir uns neben dem Klassismus, der Privilegierung/Exklusion aufgrund der sozialökonomischen Position, anderen Formen der Privilegierung/Exklusion zuwenden: Sexismus, Rassismus, Ageismus, Abelismus etc. Es gibt also auch nicht die "Einen", die an der Aufrechterhaltung der Verhältnisse interessiert sind, während die "Anderen" sie überwinden wollen, sondern wir alle sind zunächst an der Aufrechterhaltung interessiert, weil wir so immerhin noch unsere Existenz sichern können, und zwar in Mitteleuropa noch weit besser als woanders.

Die Frage ist also, wie wir einen parallelen Entlern- und Neulernprozess organisieren können, in dem wir uns neue Bedingungen schaffen, in denen wir für unsere Bedürfnisbefriedigung keine Privilegien und Ausschlüsse mehr brauchen. Demgegenüber schätzen wir die Beständig- und damit Widerständigkeit der geronnenen Institutionen der versachlichten Herrschaft als wesentlich gravierender ein: Markt, Staat, Recht, Parteien, Erziehung, Grenzen, Militär etc. Vielleicht zielte Ihre Frage hierauf ab. Die Antwort darauf kann im Moment von unserer Seite leider nur unbefriedigend sein, da wir die Form des Aufhebungsprozesses noch nicht ausreichend bestimmt haben. Erst dann können wir die Aufhebung dieser Institutionen konkreter entwickeln, was beendet werden kann, was weitergeführt werden will und was in neuer Qualität zu schaffen ist.

Von der neoliberalen Seite oder der Neuen Rechten (groß sind die Unterscheide da ja nicht) würde an Sie wiederum der Vorwurf gerichtet, die Idee einer postkapitalistischen Gesellschaft sei gefährlich, da sie der raubtierhaften menschlichen Natur zuwiderlaufe, deren Ausdruck der Kapitalismus sein solle. Wie gehen Sie mit solchen Projektionsleistungen um?

Simon Sutterlütti und Stefan Meretz: Die neuen Rechten denken den Neoliberalismus nur konsequent weiter. Sie sind radikalisierte Ziehkinder des Neoliberalismus, wie er in unterschiedlichem Ausmaß von allen Parteien vertreten wird. Eine dieser Konsequenzen ist die naturalisierende Behauptung, der Mensch sei eben ein Raubtier. Wahr daran ist, dass Menschen diese "Leistungen" vollbringen können. Sie sind offensichtlich dazu in der Lage, sich auf Kosten anderer durchzusetzen, und der Kapitalismus ist die perfekte Struktur, in der das zur Geltung kommt.

Genauso offensichtlich gibt es aber andere Verhaltens- und Beziehungsweisen, die auf Inklusion zielen. Die Frage ist also, welche gesellschaftlichen Bedingungen sie brauchen, damit eben diese Seite zur Geltung kommt. Mit unserem Buch schlagen wir vor, auf beide Aspekte gleichzeitig zu gucken, auf die subjektiven Möglichkeiten und die objektiven Bedingungen.

Wir zeigen, dass wir uns nicht irre machen lassen brauchen, nur weil manche das, was wir haben, die Exklusionslogik, in den Menschen als Natureigenschaft hineinverlagern und damit verewigen. Wir zeigen aber auch, dass es nicht ausreicht, sich nur individuell anders zu verhalten, ethisch zu konsumieren usw. Eine individualisierte Inklusion, so gut sie gemeint ist, greift zu kurz. Sondern wir brauchen Strukturen, in denen ein inkludierendes Verhalten subjektiv funktional ist, in dem sie auf qualitativ schöne Weise die eigene Existenz sichert. Und das müssen am Ende gesellschaftliche Strukturen sein, wie wir versuchen, sie als Commonismus zu entwickeln.

Mit unserem Buch haben wir nach unserem Eindruck gerade erst einen groben Rahmen abgesteckt. Wir laden alle ein, die Lust haben, eine begründete Utopie und Transformation zu entwickeln, sich zu beteiligen - theoretisch wie praktisch.

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