"Wir hoffen, dass ein wissenschaftliches Denken über Utopie möglich wird"

Seite 3: "Die freie Gesellschaft wird nicht durch eine politisch-staatliche Veränderung erreicht, sondern durch eine Revolution unserer Beziehungen"

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Sie bloggen ja auch auf dem Blog keimform.de. Können Sie uns erläutern, was Keimformen sind? Geht es hier um das Aufspüren von Ansätzen einer anderen Gesellschaft - mitten im Spätkapitalismus?

Simon Sutterlütti und Stefan Meretz: Es mag verschiedene Aufhebungstheorien geben, die Keimformtheorie ist unsere eigene. Keimformen sind soziale Räume im Kapitalismus, in welchen die Logik der Inklusion schon bestimmend ist. Da diese sozialen Räume innerhalb eines "feindlichen" Umfeldes existieren, sind sie immer begrenzt. Die Inklusionslogik kommt in ihnen noch nicht voll zur Geltung, die Dynamiken einer Inklusionsgesellschaft sind in ihnen nur rudimentär, unentfaltet, reduziert vorhanden. Und doch können diese Keimformen - bei einer passenden gesellschaftlichen Entwicklung - die Grundlage einer neuen Gesellschaft werden.

Nun ist die zentrale Frage, was die Keimformen ausmacht, aus denen eine Inklusionsgesellschaft entstehen könnte. Es geht also tatsächlich um das Aufspüren von Ansätzen einer anderen Gesellschaft. Leider sind wir uns hierbei unschlüssiger als noch vor einem Jahr. Freiwilligkeit und kollektive Verfügung und die dadurch nahegelegte Inklusion lassen sich in vielen Räumen und Projekten finden, welche häufig als Commons bezeichnet werden: Wikipedia, solidarische Landwirtschaft, autonome Zentren, kollektive Wohngemeinschaften, feministische Schutzräume, Klimacamps etc.

Doch Inklusion ist hier nicht nur beschränkt, sondern die Projekte sind zusätzlich begrenzt: Sie sind häufig auf das zwischenmenschliche Nahumfeld ausgerichtet. Beispielsweise können diese Projekte kaum gegenständliche Mittel - bspw. Nahrung oder Kleidung - für Nicht-Projektmitglieder zur Verfügung stellen. Damit die Projekte gut funktionieren, kann die kollektive Verfügung nur in kleinem Rahmen hergestellt werden. Doch wie soll daraus eine gesellschaftliche Vernetzung und Vermittlung entstehen?

Wir sind uns hier unsicher und kritisch gegenüber Vorstellungen, dass sich die Projekte einfach irgendwie vernetzen und dadurch ein "commonistischer Raum" entsteht, der irgendwann den Kapitalismus ablöst. In unserem Buch versuchen wir einige Szenarien zu besprechen. Hier freuen wir uns auf Mitdenker*innen, da dies eine schwierige Frage ist, die wir nur gemeinsam beantworten können.

Dies scheint tatsächlich ein zentraler Widerspruch einer "Aufhebungspraxis" zu sein. Kann es tatsächlich ein richtiges Leben im falschen Ganzen geben? Kritiker könnten nun einwenden, dass die Keimform-Ansätze den notwendigen, kategorialen Bruch mit den herrschenden, in Chaos übergehenden Verhältnissen die Spitze nehmen, indem sie de facto den Rückzug von Aktivisten in gesellschaftliche Nischen beförderten.

Simon Sutterlütti und Stefan Meretz: Es geht nicht um ein richtiges Leben im Falschen, sondern um das Praktizieren und Ausdehnen von neuen Beziehungsweisen (Bini Adamczak), welche in ihrer Verallgemeinerung eine freie Gesellschaft schaffen können. Diese Beziehungsweisen können im Falschen nicht richtig sein, aber bergen doch in sich die Potenz einer freien gesellschaftlichen Organisation. Damit nehmen diese Keimformen dem gesellschaftlichen Bruch nicht die Spitze, sondern entwickeln sich in Richtung auf den Bruch zu.

Dies ist das Element, das nicht-nischenhaften Bewegungen teilweise fehlt: Sie versuchen Allgemeinheit zu erringen, aber da sie keine neuen Formen der Vergesellschaftung und damit der Herstellung von Allgemeinheit aufbauen, bewegen sie sich in der alten Form, und dies ist in der Regel die politisch-staatliche Veränderung. Gerade diese Form aber nimmt dem emanzipatorischen Streben seine Spitze und lässt sie nur noch als 6-Stunden-Tag, Homoehe, Abschiebungskritik, Umverteilung etc. wirksam werden. Der kategoriale Bruch steht nicht am Ende einer politischen Bewegung, er fällt nicht nach der Revolution vom Himmel, sondern er kann sich nur in unseren Beziehungen, unseren sozialen Zusammenhängen entwickeln. Schlussendlich unbeschränkt entfalten kann er sich aber erst nach dem gesellschaftlichen Bruch, wenn die Keimformen und ihre Inklusionslogik dominant werden und die Gesellschaft bestimmen.

Keimformen schaffen Räume anderer Selbstverständlichkeiten, und so sehr auch linke Blasen oder emanzipatorisch-orientierte Milieus als Fluch und Beschränkung erlebt werden, so sehr werden uns ihre Vorteile schmerzlich bewusst, wenn wir Alltags-Sexismus und -Rassismus, Individualisierung und Vereinzelung in ungefilterter Bandbreite erfahren.

Diese Keimformen lassen sich aber nicht nur in kleinen süßen Projekten erleben, sondern auch auf Großdemonstrationen und mitten in sozialen Kämpfen. Auch hier versuchen wir unsere Bedürfnisse gegenseitig einzubeziehen und aufeinander aufzupassen, dies basiert häufig auf Freiwilligkeit und kollektiver Verfügung über Organisationsformen, Gruppenprozesse, Sprache etc. Doch oft werden die tatsächlich neuen sozialen Prozesse nur instrumentell als Mittel zum eigentlich wichtigeren anderen Zweck des politischen Ziels gesehen.

Wir schlagen vor, dass wir diese Praktiken als Keimformen ernst nehmen und sie als Beziehungsweisen bewusst entwickeln. Denn häufig schleicht sich eine Verwechslung ein, simpel gesprochen: Wir sind nett zueinander, um den politischen Output zu erhöhen, wir sollten aber politischen Output nutzen, damit wir zueinander nett sein können. Keimformen bedürfen politischer Kämpfe und werden durch sie erleichtert, aber die Reihung muss klar bleiben: Nicht die politische Macht wird uns Freiheit bringen, sondern neue Formen der Vermittlung und der Organisation. Die freie Gesellschaft wird nicht durch eine politisch-staatliche Veränderung erreicht, sondern durch eine Revolution unserer Beziehungen - interpersonal im Nahraum wie transpersonal gesellschaftlich.

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