Wir müssen Angriffskriege endlich verurteilen

US-Truppen im Irak, 8. Dezember 2009. Bild: U.S. Department of Defense

Themen des Tages: Das Stimmungsbild der Deutschen. Die Probleme der Energiewende. Und eine Schräglage beim Blick auf Völkerrechtsbrüche.

Liebe Leserinnen und Leser,

1. Inflation und Ukraine-Krieg machen den Menschen in Deutschland zu schaffen.

2. Die Friedensbewegung ist ein Opfer des Krieges geworden.

3. Und welche Verbrechen wir im Westen als "unfassbar" verurteilen.

Doch der Reihe nach.

Ängste und Sorgen der Deutschen

Professor Klaus Schweinsberg ist Volkswirt, Oberstleutnant der Reserve und Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr sowie Gründer und Geschäftsführer des "Centrums für Strategie und Höhere Führung" – und er findet große Teile der deutschen Bevölkerung viel zu ängstlich und pflichtvergessen, schreibt heute Telepolis-Redakteurin Claudia Wangerin. Er ist auch Mitherausgeber der Studie "Sicherheitsreport 2023", die seine Organisation am Dienstag gemeinsam mit dem Meinungsforschungsinstitut Allensbach in Berlin vorstellte.

Die aktuell größten Sorgen der Deutschen sind demnach die Inflation und der Krieg in der Ukraine – wobei die Geldentwertung zurzeit noch um einen Prozentpunkt vorn liegt: 86 Prozent der Befragten machen die Preissteigerungen große Sorgen, 85 Prozent sind über den Krieg in der Ukraine sehr besorgt.

Trägheit der Energiewende

Während die Internationale Energieagentur in Paris die Zukunft der erneuerbaren Energieträger in rosigen Farben beschreibe, komme die Energiewende in Deutschland nicht recht voran, so Telepolis-Autor Wolfgang Pomrehn. Das gehe unter anderem aus Klagen des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) hervor.

Der Interessenverband der Energieversorger, der in früheren Jahrzehnten ganz von den Kohle- und Atominteressen der großen Platzhirsche wie RWE, EnBW, E.on und Vattenfall beherrscht war, vereinigt heute nicht nur zahlreiche Stadtwerke, sondern auch viele kleine und größere Unternehmen in seinen Reihen, die ausschließlich auf den Ausbau der erneuerbaren Energieträger setzen.

Lethargie der Friedensbewegung

Mit dem Zustand der Friedensbewegung befasst sich Telepolis-Autor Björn Hendrig. Die finde man selbst mit der größten Lupe hierzulande kaum. Nirgendwo Pazifisten und Friedensbewegte, die wie einst vor rund 40 Jahren zu Hunderttausenden gegen eine massive Aufrüstung Deutschlands auf die Straße gingen. "Damals warnten sie vor einem Atomkrieg und forderten deshalb von der Bundesregierung, die Stationierung von US-amerikanischen Mittelstreckenraketen abzulehnen", so Hendrig:

Heute demonstrieren keine Massen gegen eine 100 Milliarden Euro-Aufrüstung – eine Aufrüstung, die die Nachrüstung gegen die damalige Sowjetunion locker in den Schatten stellt. Und die schon jetzt vom frisch gebackenen Verteidigungsminister als nicht ausreichend bezeichnet wird.

Unsere seltsame Wahrnehmung von Angriffskriegen

Seit dem Angriff der russischen Streitkräfte auf die Ukraine am 24. Februar dieses Jahres werden die politische Debatte und die mediale Berichterstattung von ungeschriebenen Regeln bestimmt. Eine davon lautet, dass der andauernde Krieg als Angriffskrieg bezeichnet werden soll.

Das ist nicht falsch, juristisch stimmt es, aber der Begriff ist zugleich ein ideologischer Marker. Wer ihn benutzt, macht seine Positionierung gegen Russland und wohl für die Ukraine deutlich. Wer ihn nicht benutzt, könnte sich verdächtig machen. Denn soll dies dann heißen, dass Russland keinen Angriffskrieg führt?

Der Nachrichtenchef der Deutschen Presse-Agentur (dpa), Froben Homburger, sagte dazu im Interview mit der Frankfurter Rundschau, die Agentur verwende "meist präzisere Formulierungen wie ‚Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine‘. Das Kurzwort ‚Ukraine-Krieg‘ setzen wir eher mal in knappen Überschriften ein oder aber erst in der Zweit- oder Drittnennung nach der ausführlicheren Bezeichnung."

Seine Ausführungen zur Berichterstattung flankierte der Agentur-Journalist mit einem moralischen Statement: "Wer bei einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg eine ‚neutrale Haltung‘ für sich beansprucht, setzt sich dem Vorwurf der Gleichgültigkeit gegenüber einem kaum fassbaren Verbrechen aus."

Am 19. März dieses Jahres nun jährt sich der Angriff der USA auf den Irak zum zwanzigsten Mal. 50 Tage vor Kriegsbeginn 2003 sagte der damalige US-Präsident George W. Bush: "Die britische Regierung hat erfahren, dass Saddam Hussein kürzlich große Mengen Uran aus Afrika beschafft hat."

Doch die Dokumente, nach denen der Irak angeblich Uran aus Niger beziehen wollte, stammten aus dem Jahr 2001 und waren gefälscht.

Heute kennen wir die Hintergründe. Ein geheimes Memo über ein zweistündiges Treffen Bushs mit dem britischen Premierminister Tony Blair ist an die Öffentlichkeit gelangt. Das Dokument zeigt, wie Bush und Blair eine geheime Abmachung trafen, den Irak anzugreifen – egal ob Massenvernichtungswaffen gefunden werden oder nicht.

Und nun wird es spannend: Weder deutsche Onlinequellen noch die dpa ordnen das so ein. Hier ein rasches Suchergebnis:

- Suchbegriffe "USA", "Irak", "Angriffskrieg" bei Google: 82.500 Treffer.

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Und mehr noch:

- Suchbegriffe "dpa", "Irak", "Angriffskrieg" mit Suchoperator "AND" im Agenturarchiv seit 1991: 122 Treffer.

- Suchbegriffe "dpa", "Ukraine", "Angriffskrieg" mit Suchoperator "AND" im Agenturarchiv seit 1991: 14.129 Treffer.

Natürlich ist der Angriff der russischen Streitkräfte auf die Ukraine völkerrechtswidrig und als Angriffskrieg zu werten. Das Beharren auf dem Terminus "Angriffskrieg" aber zeigt, wie unterschiedlich das Geschehen hierzulande wahrgenommen und bewertet wird. Anders in Entwicklungs- und Schwellenländern.

Auch das ist ein Grund, warum die westlichen Sanktionen gegen Russland global keine weitreichende Unterstützung finden. Olaf Scholz hat das unlängst in Brasilia zu spüren bekommen.

Artikel zum Thema:

Thomas Barth: Doppelmoral des Westens im Ukraine-Krieg?
Hans-Christoph von Sponeck: Eine UNO für alle
Noam Chomsky, C.J. Polychroniou: Chomsky zu Irak-Krieg: Warum die USA mit Völkerrechtsbrüchen davonkommen