Wo bleibt die Fähigkeit zur Klarheit? Das Schweigen der Linken zu Israel

Viele Kulturlinke haben zu allem etwas zu sagen. Nur zu Israel fällt ihnen nichts ein – außer das Falsche: Zensuren für Mitschuld. Ein Kommentar.

Schweigen ist feige.

Marius Müller-Westernhagen, 1994

Für die "Rote Flora" ist alles eindeutig klar: "Killing Jews is not fighting for freedom! Wir sind solidarisch mit allen Menschen in Israel und allen Jüdinnen und Juden weltweit. You are not at alone!", schrieb das autonome Zentrum im Hamburger Schanzenviertel vor einer Woche an seine Fassade in einer auch für Israelis verständlichen Botschaft.

Denn: Wer links ist, muss jetzt sagen: "I stand with Israel." Aber es sind eben nicht alle links.

Das identitäre Woke-Milieu, das sich gern links nennt, ergeht sich zurzeit in Relativierungen, schiefen Vergleichen, Verharmlosungen des Hamas-Terrors und weiteren Formen des untergründigen Antisemitismus, der von Zeit zu Zeit und gerade wieder in Deutschland an die Öffentlichkeit ploppt.

Selbstverständlich: Es gibt auch einen rechten und einen rechtsextremen Antisemitismus. Es gibt einen Antisemitismus der Mitte. Es gibt besonders einen muslimischen Antisemitismus. Aber reden wir jetzt mal vom Antisemitismus der linken und linksliberalen Kreise, der akademischen Kreise der Kulturszene.

Die Phrasen des Postkolonialismus

Am gestrigen Sonntag fand am Brandenburger Tor eine Demonstration statt. Sie trug den Titel "Gegen Terror und Antisemitismus – Solidarität mit Israel!" Der Text, der zu ihrer Begründung als Aufruf in den letzten Tagen in den sozialen Netzwerken verschickt wurde, hat bereits viele der ach so verständnisvollen Deutschen getriggert. Denn ihr Verständnis gilt vor allem den "armen Palästinensern".

Der Text des Aufrufs lautete:

Eine halbe Million Menschen sind im März 2022 auf die Straße gegangen, um gegen Russlands Überfall auf die Ukraine zu protestieren. Das war wichtig. Bitte lasst uns jetzt ein mindestens genauso starkes Zeichen setzen. Zeigt der Welt, dass die Neuköllner Hamas-Freunde und Judenhasser in der Minderheit sind. Kommt alle! Bitte!

Das geht natürlich ganz und gar nicht! Alleine schon, dass hier "aufgerechnet" wird, dass der ja so wichtige Ukraine-Krieg hier "relativiert" wird. Ein "halsbrecherischer Vergleich" sei das, empörte sich ein FB-Freund.

Aber vor allem, dass von Neuköllner Hamas-Freunden die Rede ist, provoziert deutsche Gutmenschen. Da schwärmen dann schnell die Facebook- und Twitter-Schwadronen aus und geben ihre vorhersehbaren Erklärungen ab, garniert mit den Phrasen des neuen deutschen Postkolonialismus.

BDS und Bedarfsjuden – fertig ist das gute Gewissen

Dazu zitiert werden dann Äußerungen von irgendeinem israelischen oder jüdischen Wissenschaftler oder Politikern oder Aktivisten – wer halt gerade zur Hand ist; jeder hat seinen Bedarfsjuden – es werden Leute erwähnt wie der "jüdische Aktivist" Matt Bernstein, weil er "eine andere Perspektive aufzeigt bezüglich 'I stand with Israel' oder der jüdische Psychologe und Wissenschaftler Gabor Maté, dessen Eltern und gesamte Familie im KZ starben, oder der israelische Politikwissenschaftler Moshe Zuckermann, weil er bezüglich Israel schon immer gesagt hat, was die Deutschen gern hören wollen.

Da wird dann geschrieben von der "Wichtigkeit der Vermeidung dieser Wortwahl": Die Formulierung "die Neuköllner Hamas-Freunde stimmen eine Pauschalverurteilung der Zivilbevölkerung eines regionalen Bezirks an" führe zu weiterem Rassismus. Und so weiter. Dazu noch ein paar Zitate aus BDS-Flyern, und fertig ist das gute Gewissen.

Die Nachfahren der Erbauer von Auschwitz erteilen den Nachfahren der Ermordeten Lektionen - und legitimieren Terrorbanden

Der Aufrufstext wurde von den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen, einem der renommiertesten deutschen Filmfestivals, das einst zur Keimzelle des Neuen Deutschen Films und damit auch des post-faschistischen Jungen Deutschen Films der 1970er-Jahre wurde, in den sozialen Netzwerken verbreitet. Die Reaktionen waren vor allem erschreckend spärlich und das, was kam, war reserviert und belehrend gegenüber den Absendern.

Die, die sich rückmelden, vermischen Täter und Opfer, indem sie erstens behaupten, es wäre "ebenso wichtig und dringlich" gegen die Bombardierung Gazas auf die Straße zu gehen oder sich anderweitig zu erklären, wie gegen Antisemitismus. Von den Terrorakten gegen Zivilisten kein Wort.

Zweitens wird behauptet: "In einer konsistenten und integren Haltung würden diese beiden Gesten (also Palästinenserverständnis und Israeli-Verständnis, das mit Verständnis für deutsche Juden gleichgesetzt wird) zusammenhängen und sich nicht entgegenstehen."

Die "Angriffe der Hamas" schreibt ein Filmkurator in Bezug auf die Hamas-Pogrome, seien "die Frucht und moralische Bankrotterklärung der Siedlungs- und Besatzungspolitik der Regierung Netanjahu".

Tatsächlich erlebt man in solchen Positionen den Bankrott der spezifisch deutschen Haltung zu Israel, die sich zwar auf die historische Schuld der Shoah beruft, aber daraus nicht etwa ein universales Einstehen gegen jede Form von Terrorismus ableitet, sondern Zensuren für Mitschuld vergibt.

Die Nachfahren der Erbauer von Auschwitz erteilen den Nachfahren der dort Ermordeten Lektionen - das ist die Realität in Deutschland 2023.

Dieses Schweigen und dieser Zynismus haben zur Radikalisierung der Verhältnisse und zur Legitimierung von Terrorbanden wesentlich beigetragen. Diese neue deutsche Schuld wird auch einmal in den Geschichtsbüchern stehen.

Wofür ist Kunst denn da? Kunst und Kultur existieren nicht im unpolitischen Raum! Und leider gibt es beängstigend offene Antisemitismen auch in der deutschen Kulturszene und das dauernde Aufrechnen von Gaza und Israel.

In den deutschen Nachrichten sieht man Bilder von lachenden Kindern in Gaza, denen es jetzt schlecht geht – wo bitte sieht man die Bilder von lachenden Kindern im Kibbuz?

Wahrscheinlich nirgendwo, weil die entweder tot sind oder sich in Bunkern verstecken – es rieseln nämlich nicht nur dauernd Raketen auf Gaza, sondern auch dauernd Raketen auf Israel. In der deutschen Öffentlichkeit findet dies allerdings vergleichsweise so gut wie gar nicht statt.

Stattdessen wird aufgerechnet. Und tendenziös geframed: Man zeigt Raketen auf Gaza. Schnitt. Kinder in Gaza. Schnitt. Regierung in Jerusalem. Der Subtext ist klar.

Frösche und Bäume in Südamerika scheinen schützenswerter als Juden in Deutschland

Die Welt schrieb dieser Tage einen Text mit dem treffend-provokativen Titel: "Sonst laut gegen rechts, beim Judenhass ganz leise."

Darin werden Prominente vor allem aus der Film- und Literaturszene kritisiert, die sehr gerne alle möglichen Aufrufe unterstützen, die in einem Moment, in dem Molotow-Cocktails auf eine Synagoge fliegen und das Denkmal für die von Deutschen ermordeten Juden durch Polizeihundertschaften geschützt werden muss, aber ganz leise sind. Ob Nora Tschirner und Lars Eidinger, Sophie Passmann und Jan Böhmermann, ob Rezo oder die deutsche Fußballnationalmannschaft.

Auf eine Anfrage der Welt, die Promis um einen kleinen Text zur Lage gebeten hatte, meldete sich immerhin Klimaaktivistin Luisa Neubauer zurück. Sie formulierte:

Es liegt an uns allen, die Herzen aufzumachen und uns schützend gegen Antisemitismus aufzulehnen. Um es mit Michel Friedman zu halten: Antisemitismus trifft nicht "nur" Jüdinnen und Juden. Antisemitismus greift das Wertefundament freier Demokratien an, es ist ein Problem der gesamten Gesellschaft.

Luisa Neubauer

Ansonsten: Traurige Fehlanzeige. Die Welt schreibt:

Die Agentur von Nora Tschirner und Klaas Heufer-Umlauf antwortete geschlechtergerecht: "Leider muss ich hier aus zeitlichen Gründen für beide Künstler:innen absagen." Auf eine nicht ganz ernst gemeinte Nachfrage, ob beide es denn bis zum 9. November schaffen würden, kam wieder eine Absage: "Leider sehen wir in naher Zukunft generell keine Kapazitäten."

Die Welt

Ebenso Joko Winterscheidt, Sophie Passmann, Lars Eidinger, Marteria, Deichkind. Alice Hasters, K.I.Z., Casper, Kraftklub, Marius Müller-Westernhagen, Felix Lobrecht, Jasmina Kuhnke,

Welt: "Immer wieder Worte wie 'müssen', 'leider', 'können nicht', 'aus zeitlichen Gründen'. In Instagram-Storys sah man derweil Nora Tschirner Eis essen und auf Filmpremieren gehen. Sophie Passmann spielte mit dem Podcaster Tommi Schmitt Fußball.

Rapper Marteria erzählte, dass er in Peru "40 Hektar Primärregenwald" gekauft habe und ein "kleiner Frosch vom Aussterben" gerettet worden sei. Frösche und Bäume in Südamerika scheinen schützenswerter als Juden in Deutschland?

Gar nicht geantwortet trotz mehrerer Nachfragen haben: die deutsche Fußball-Nationalmannschaft, Entertainer Jan Böhmermann, Feministin Teresa Bücker, Komikerin Enissa Amani, Internet-Promi Rezo und Schriftstellerin Kübra Gümüsay.

"Deutschland, ich kann es nicht fassen"

In der Jüdischen Allgemeinen schreibt Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland über "Das Schweigen der Künstler".

Schuster vermisst den großen Aufschrei der deutschen Kulturlandschaft gegen den Terror und den Hass.

Für die Mitglieder unserer Gemeinden bleibt das Gefühl, ja die Gewissheit, allein zu bleiben, genau dann, wenn Anteilnahme und Identifikation so gebraucht werden.

Jüdische Allgemeine

Auch in der Zeit ergreift Zeitmagazin-Chefredakteur Sascha Chaimowicz unter dem Titel "Dieses Schweigen" das Wort: "Viele Reaktionen auf die Hamas sind seltsam emotionslos, Juden werden bedroht: Deutschland, ich kann es nicht fassen."

In den sozialen Medien schwiegen diesmal gerade diejenigen, die sich sonst mit lauter Stimme für alle möglichen gesellschaftlichen Belange engagieren. Fragt man bei bekannten Aktivisten der postkolonialen, antirassistischen Szene nach, die sonst in der öffentlichen Debatte das Wort führen, warum sie sich zurückhalten, hört man Antworten, die man eher aus Amtsstuben kennt: Dafür seien sie nicht zuständig. Sie würden sich auf ihrem Kanal ausschließlich dem Kampf gegen Rassismus widmen. (...)

Und wenn sie sich doch zu Statements durchrangen, klangen diese oft seltsam relativierend: Sie verurteilten den Terror der Hamas, um im nächsten Satz die Regierung Netanjahu und die Besetzung Palästinas anzuprangern. (...)

Die teils antisemitischen, teils emotionslosen Reaktionen in Deutschland beruhen auch auf einem Missverständnis: Es wurde so getan, als handelte es sich bei dem Massaker um eine weitere, besonders brutale Volte des Nahostkonflikts.

Der Terror am 7. Oktober aber ist in seiner Barbarei ohne Beispiel. Auf einen Schlag wurden mehr Juden getötet als je zuvor seit dem Holocaust. (...) Es ist nicht zu spät, doch noch innezuhalten. Die Morde der Hamas sind nicht nur Israels 11. September, sondern auch unserer.

Sascha Chaimowicz, Die Zeit