Zeitenwende? Zeitenwende!

Seite 2: Eine Situation wie 1962 in Kuba

Die USA und ihre Nato-Partner wussten genau, dass sich mit dem weiteren Vordringen der Nato über die rote Linie eine Situation wie die Kuba-Krise 1962 ergeben würde.

So hatten die US-Geheimdienste bereits im November 2021 vorausgesagt, dass Putin den Befehl zur Invasion geben würde. Als sie im Januar ihre Erkenntnisse wiederholten und den 16. Februar als Termin für den Einmarsch angaben, wäre noch genügend Zeit gewesen, den Krieg zu verhindern.

Putin hatte am 21. Dezember 2021 mit "harten militärisch-technischen Maßnahmen" auf "unfreundliche Maßnahmen" des Westens gedroht. Es ging ihm vor allem um eine langfristige Garantie, dass die Ukraine nicht in die Nato einbezogen werde. Die Annexion der Krim am 18. März 2014 sollte Politik und Militär der Nato gezeigt haben, dass Putin nicht zögern würde, seinen Worten auch Taten folgen zu lassen.

Aber die USA und ihre engsten Verbündeten ließen es auf einen Krieg ankommen. Sie hatten schon beim Maidan-Putsch mitgeholfen und die Ukraine nachhaltig aufgerüstet. Dieser Krieg war vermeidbar und es stellt sich die Frage, ob ihm nicht schon eine längere Planung zugrunde lag.

Horst Teltschik, ehemaliger Chef der Abteilung für auswärtige Beziehungen im Kanzleramt von Helmut Kohl, schreibt in seinem lesenswerten Buch "Russisches Roulette. Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden", welches bereits 2019 erschien (S. 203, 204):

Die Geschichte des Weges in die Konfrontation... zeigt eine Spirale gegenseitigen Misstrauens, wobei Moskau auch immer wieder Signale seiner grundsätzlichen Kooperationsbereitschaft aussandte und der Westen es insbesondere in der Schlüsselzeit 2007/2008 an Kompromissbereitschaft fehlen ließ. In dieser [Teltschiks] Interpretation geht es Russland in erster Linie um Sicherheit und darum, weiterhin ein eigenständiges Machtzentrum zu bleiben. Es agiert aggressiv, ... weil es einen weiteren Einflussverlust vermeiden möchte und weil es den Sicherheitsversprechen des Westens zunehmend nicht mehr traut.

Stimmt diese Sichtweise, dann führt die gegenwärtig von Washington und den osteuropäischen Nato-Staaten favorisierte Konfrontationspolitik nur zu einer immer weiteren Verschlechterung der Beziehungen und gefährdet letztlich den Frieden.

Es ist allerdings eine der unumstößlichen Überzeugungen im Westen, dass der Kreml nicht verhandeln will, es also keinen Zweck hat, ihm Verhandlungen anzubieten. Putin reagiere nur auf Gewalt. Deshalb gilt die von Wolodymyr Selenskyj ausgegebene Devise, Krieg bis zum Sieg, die insbesondere die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) verficht.

Dementsprechend werden die raren Gelegenheiten wirklicher Verhandlungen torpediert. Ob die durch Frau Merkel, François Hollande und Viktor Poroschenko selbst aufgedeckte Verhandlungsfarce von Minsk II im Jahr 2015 oder die offensichtlich bis zu einem Vertragsentwurf für Waffenstillstand und Frieden gelangten Verhandlungen in Istanbul im März 2022, die durch eine Intervention des britischen Premiers Johnson in Kiew gestoppt wurde oder die schließlich ebenfalls am Widerstand der USA und Großbritanniens gescheiterten Friedensbemühungen des ehemaligen israelischen Premiers Naftali Bennett, der Befund bestätigt:

Die USA und ihre Nato-Verbündeten sind an einem Frieden nicht interessiert, da ihr Kriegsziel weit über die Wiederherstellung der Souveränität der Ukraine hinausgeht und die Schwächung Russlands, seine Ausschaltung als internationaler Machtfaktor verfolgt – in den Worten der deutschen Außenministerin Baerbock, "Russland ruinieren".

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist schon lange ein Krieg der USA gegen Russland. John Mearsheimer von der Universität Chicago, ein führender Vertreter der realistischen Schule, pointiert:

Die USA wollen Russland nicht nur innerhalb der Ukraine besiegen. Sie versuchen auch, die russische Wirtschaft zu zerstören. Es gibt Leute, die sogar davon sprechen, Russland zu zerschlagen wie einst die Sowjetunion. Die USA sind darauf aus, Russland aus der Reihe der Großmächte zu verdrängen.

Ob nun Verhandlungen oder nicht, Waffenlieferungen sind das stärkere Argument. Sie verlängern den Krieg und eskalieren die Gewalt. Dass diese Politik schließlich den Einsatz von Nuklearwaffen provozieren kann, wird durchaus gesehen, die Gefahr aber heruntergespielt. Und das ist das Bedrohlichste an dieser Perspektive, dass die USA diese Gefahr nicht berührt, denn ihr Territorium liegt im Falle der Detonation mindestens 8.000 Kilometer entfernt.

Dieser Artikel erscheint auch in Spinnrad. Forum für aktive Gewaltfreiheit, Ausgabe 1/2023, herausgegeben vom Internationalen Versöhnungsbund – Österreichischer Zweig

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