Zensiert, diskutiert, unterschlagen

Verbote und die Schere im Kopf. Aber wer zensiert die Zensur?

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Roland Seim und Josef Spiegel leiten ihr Buch "Der kommentierte Bildband zu 'Ab 18'" mit einem Zitat von William Faulkner ein: "Vieles auf der Welt wäre völlig uninteressant, wenn es nicht verboten wäre." Aber woher wissen, wo das Interessante schlummert? Der Bildband zur Ausstellung "Ab 18" weiß Rat. Allerdings empfiehlt der Verlag, die ausführliche Materialsammlung über die "Zensur in der deutschen Kulturgeschichte" Minderjährigen nicht zu überlassen – was reißerischer klingt, als es gemeint ist.

Anfang der 1990er Jahre schufen Seim und Spiegel die Wanderausstellung "Ab 18". Mittlerweile ist die Sammlung von Exponaten und Fallbeispielen sehr umfangreich. Ausstellung, Katalog und Bildband wurden mehrfach aktualisiert und belegen, dass in der Bundesrepublik Deutschland "zensiert, diskutiert, unterschlagen" wird. Zwar stellt das Grundgesetz im Artikel 5 zur Meinungsfreiheit fest: "Eine Zensur findet nicht statt." Eingegrenzt wird das aber im Rahmen des Jugendschutzes und der Persönlichkeitsrechte. Auch Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre unterliegen der "Treue zur Verfassung" – manchmal auch jener zur Amtskirche.

Offene Zensureingriffe und Verbote...

Wie illustriert man Zensurpraktiken? Seim und Spiegel stellen den von ihnen aufgespürten Originalen die veränderten oder zensierten Fassungen gegenüber. Comiczensur bedient sich etwa zusätzlicher Sprechblasen, um unliebsame Gewaltszenen zu verdecken. Andere Beispiele zeigen, wie Hakenkreuze in US-Comics in deutschen Ausgaben zu Fensterkreuzen werden. Zensurmaßnahmen können in der Populärkultur freilich auch zu bösen Rechtstreitigkeiten führen (vgl. Eine Zensur findet schlicht statt).

Mittels einer Auswahl von abgebildeten Platten- oder Videocover, Filmszenen sowie Screenshots von indizierten Homepages und 3D-Shootern illustriert der Bildband die verschiedenen Facetten der Zensur. Kurztexte erläutern Hintergründe, es werden Passagen verbotener Literatur, Musiktexte (vgl. Rockende Inquisitoren) und Faksimiles von Gerichtsurteilen abgedruckt. Ein Anhang widmet sich Verbotslisten wie dem Index Romanus des Vatikans und anderen Verzeichnissen indizierter Produkte.

Der Lego-KZ-Bausatz wurde 1997 vom polnischen Kurator als Ausstellungsobjekt der Biennale Venedig zurück gezogen. Der Künstler Zbigniew Libera wollte mittels Modell und des "rationalen System" des Spielzeugs die Rationalität der Konzentrationslager darstellen.

Aber auch die Zensur geht mit der Zeit und der aktuellen Gesetzgebung, was Indizierungen von Splatterfilmen oder pornografischer Produkte verdeutlichen. So können Neuauflagen inkriminierter Video- oder Kinoversionen auf DVD abermals von Zensur betroffen sein. Warum aber sollte man jene in den 70er Jahren belangten Sexfilme in Zeiten von Hardcore-Pornografie nochmal indizieren? Es passiert nicht, jedoch bleibt meist der Indexeintrag aus früheren Jahren – beispielsweise für das Medium Video – bestehen. Zensur ist ein schwierig zu durchschauendes Geschäft.

Retuschen, Manipulationen und Markenschutz

Noch unauffälliger manipuliert etwa die Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), die Werbe- oder Wirtschaftsbrache (vgl. Der musikalische Sell-Out bei Wal-Mart), oder es geschieht mithilfe von Bildmontagen und Retuschen. Kürzen FSK und Filmverleiher von dem Gros der Zuschauer meist unbemerkt Spielfilme um jugendgefährdende Szenen – aus wirtschaftlichen Interessen, da niedrigere Altersfreigabe mehr Zuschauer garantieren sollen –, erweitert die Boulevardpresse schon mal Prominentenfotos zwecks Kaufanreiz um "Küsse" oder "Babys".

Mittels Dokumentation des "Originals" lässt sich freilich auch manipulieren. So weisen die Autoren auf den Fall der Illustrierten "Woche der Frau" hin. Sie druckte am 15. Mai 2000 auf dem Titelblatt und im Innenteil "Nackt-Fotos" der schwedischen Prinzessin Victoria, die das Königshaus "erschütterten". Erst im Heftinneren wurde erläutert, dass die Bilder dokumentierte Fakes einer satirischen Homepage waren. Durch die Schlagzeile und Aufmachung des Covers ergab sich jedoch ein anderes Bild – und eben das hing allerorten gut sichtbar aus.

Anders als die erste Auflage enthält das Buch mit fast 570 Abbildungen gesonderte Kapitel zu derartigen Verletzungen von Persönlichkeitsrechten. Ebenso werden erstmals Verstöße gegen Markenschutz separat aufgeführt. Gerade hier dürfte verstärkt mit rechtlichen Schritten und Zensur zu rechnen sein. Collagenkunst oder Sachbücher haben hierunter zunehmend zu leiden, wie der Fall zum Buch über die Trickfilm-Serie "Die Simpsons" beweist. Ähnliches erlebte Stefan Thiersen mit "Star Wars: Das Buch der Macht".

Thiersen musste unter Androhung von Schadenersatzforderungen des US-Medienkonzerns Lucasfilm jenen Titel ändern, die Restauflage vernichten und sieht laut Seim/Spiegel die "bedenkliche Entwicklung", dass sich "immer größere Teile unserer Allgemeinkultur, ja selbst Worte und Begriffe, unter der Kontrolle von Konzernen befinden."

Roland Seim, Josef Spiegel (Hg.): Der kommentierte Bildband zu "Ab 18". Zensur in der deutschen Kulturgeschichte. Telos Verlag, Münster 2001, 350 Seiten, 49,80 DM