Zu den "Empörten" kommen die "Bestürzten"

Das Manifest bestürzter Ökonomen ist in Frankreich inzwischen zum Bestseller geworden

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Mit den Turbulenzen an den Finanzmärkten, in die immer stärker auch Frankreich hineingezogen wird (Der Anleihe-Kauf wird teuer für die EZB), ist auch ein kleines Büchlein beim Nachbarn zum Bestseller geworden. Im "Manifeste d'économistes atterrés" machen "bestürzte Wirtschaftswissenschaftler" die Macht der Finanzmärkte und den Neoliberalismus für die Entwicklungen an den Finanzmärkten verantwortlich. Sie weisen darauf hin, dass hier lediglich Glaubenssätze als scheinbare wissenschaftliche Erkenntnisse verkauft werden. Sie sprechen von einer "Unterordnung unter eine Diktatur" die zur "Beruhigung der Märkte" dienen soll und räumen mit 10 falschen "offenkundigen Tatsachen" auf. Sie fordern eine Kontrolle der Finanzmärkte, um eine sozial gerechte Entwicklung zu ermöglichen.

In Deutschland ist das Büchlein der vier Ökonomen Philippe Askenazy, André Orléan, Henri Sterdyniak und Thomas Coutrot weitgehend unbekannt. Doch in Frankreich ist ihr Manifest inzwischen zum Bestseller geworden. Schon kurz nach seinem Erscheinen hatten fast 1000 an Universitäten tätige Ökonomen und zahllose Angehörige die Streitschrift unterzeichnet. Vom Buch, das auch frei im Internet auf Französisch, Spanisch und Portugiesisch zugänglich ist, wurden für 5,50 Euro schon zehntausende Exemplare verkauft. Man fragt sich, warum bis heute keine deutsche Übersetzung vorliegt. Liegt es daran, dass man in Deutschland lieber mit Thilo Sarrazin ätzt und man sich in Frankreich und anderswo mit Stéphane Hessel (Das Volk setzt die Regierenden unter Druck) gegen die herrschenden Zustände auflehnt?

So wie das Buch "Empört euch" von Hessel zum Bestseller wurde, ist es im Fall des Manifests der vier Ökonomen, von denen Askenazy, Orléan und Sterdyniak in staatlichen Forschungsinstituten arbeiten, während Coutrot wissenschaftlicher Berater von Attac-France ist, noch erstaunlicher. Sie nehmen darin einen nach dem anderen die neoliberalen Glaubenssätze auseinander, die uns tagtäglich als angebliche universelle Weisheiten um die Ohren gehauen werden. Anders als Hessel bleiben die Autoren nicht allein bei der Kritik stehen, sondern sie gegen auch Handlungsanweisungen und entwerfen Alternativen.

Sie stellen in der Einleitung fest, dass "Europa in der eigenen institutionellen Falle steckt". Staaten müssen sich Geld von privaten Finanzinstituten leihen, die wiederum das Geld günstig, in vielen Fällen praktisch zinslos erhalten. Gerade hat das die US-Notenbank (FED) bis 2013 festgelegt). Deshalb hielten die Finanzmärkte den Schlüssel für die Finanzierung der Staaten in der Hand. Die fehlende Solidarität der europäischen Staaten untereinander, die sich nicht zuletzt in Äußerungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel äußert, wenn sie von den angeblich "Faulen" im Süden spricht, die angeblich mehr Urlaub machen, früher in die Rente gehen und natürlich weniger arbeiten (Merkel brüskiert Spanien, Portugal und Griechenland), befördere die Spekulation. Auch sie werfen den Ratingagenturen vor, diese zu anzutreiben, wie sich in den letzten Monaten deutlich gezeigt hat.

Sie kritisieren die improvisierten Nothilfe-Bemühungen im Rahmen des Rettungsschirms mit "oftmals blinden Plänen zur Reduzierung öffentlicher Ausgaben", womit Lohnkürzungen bei Staatsbediensteten und die Ausdünnung der Anzahl der Beschäftigten einhergehe, womit die öffentlichen Dienstleistungen in Gefahr gerieten und Sozialleistungen in allen Staaten abgebaut würden. Damit einher gehe ein Anstieg der Arbeitslosigkeit, wie in Spanien, Griechenland, Portugal … zu beobachten ist. "Diese Maßnahmen sind aus einem politischen und sozialen Blickwinkel verantwortungslos, ja sogar auf rein ökonomischer Ebene", argumentieren sie. Damit schließen sie sich der Meinung der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz und Paul Krugman an, der sogar davon spricht, dass "Verrückte an der Macht" sind. Sie sagten richtig schon vor mehr als einem halben Jahr voraus, dass mit derlei Maßnahmen die Lage nur provisorisch beruhigt werden kann. Was sich nun im heißen Euro-Sommer abspielt, hat das sie zweifelsfrei bestätigt.

Sie hatten auch richtig vorausgesagt, dass diese Politik die Spannungen in Europa zuspitzen wird und sogar Europa in dieser Form in Gefahr bringt, dass aber mehr als nur ein ökonomisches Projekt sei. Ihrer Meinung nach sollte die Ökonomie dabei helfen, einen "demokratischen, friedlichen und vereinten Kontinent aufzubauen", doch stattdessen werde Ländern wie Portugal, Spanien und Griechenland eine "Marktdiktatur" aufgezwungen, die bis vor etwa 40 Jahren noch unter Diktaturen gelitten haben. Dabei habe diese neue "Diktatur" ihre Ineffizienz und ihre "politische und soziale Zerstörungskraft" längst bewiesen. Eingefordert wird deshalb eine wirkliche demokratische Debatte und auch die Verstaatlichung des Bankenwesens schließen sie nicht aus.

Dekonstruktion der herrschenden Ideologie

Danach räumen sie mit den Glaubenssätzen auf, unter denen die allgemeine Privatisierung, die Reduzierung von Staatshaushalten, die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, des Handels, der Finanzdienstleistungen und Finanzmärkte vorangetrieben wird, um die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Da dabei stets mit der angeblichen "Effizienz der Finanzmärkte" argumentiert wird, wird zunächst diese Behauptung kritisch unter die Lupe genommen.

Die Finanzkrise habe nämlich deutlich gemacht, dass es diese Effizienz nicht gibt. Denn auch hier funktioniert die Transparenz der Märkte nicht. Sie zeigen auf, dass gerade auf diesen Märkten von dem Gesetz des Angebot und Nachfrage keine Rede sein kann. Vielmehr zögen steigende Preise zusätzliche Käufer an, statt die Nachfrage über die steigenden Preise zu begrenzen. Das führe zur Bildung von enormen Spekulationsblasen. Gefordert werden deshalb das Verbot, dass Banken auf eigene Rechnung spekulieren dürfen und die allgemeine Verringerung der Spekulation durch Kontrolle und Besteuerung der Finanztransaktionen sowie die Begrenzung von bestimmten Geschäften. Erstaunlich ist, dass dies im Notfall sogar bisweilen geschieht, wie jetzt von Frankreich, Italien, Spanien und Belgien gerade vorgemacht. Doch handelt es sich nicht um dauerhafte Markregulierung, über die zwar gerne geredet wird, doch die auch in drei Jahren in der Finanzkrise nicht vorangekommen ist.

Man könnte jetzt die Begründungen fortführen, mit denen insgesamt zehn angeblichen "offenkundigen Tatsachen" nachgewiesen wird, dass sie schlicht falsch seien. Dazu gehört auch die absurde Annahme, dass die steigende Staatsverschuldung vor allem durch die Sozialsysteme verursacht wird. Doch in der Finanzkrise seit 2008 wurde die Verschuldung wie nie zuvor aufgebläht, um Banken und Firmen zu retten. Deshalb wuchs das Defizit von durchschnittlich knapp 60% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) Ende 2007 erst in der Krise so richtig an. Denn vor der Krise blieben die meisten Staaten noch unter diesem inzwischen weitgehend unbeachteten EU-Stabilitätskriterium. Wie auch schön bei Eurostat nachzulesen ist, schwoll die Verschuldung schon bis 2009 auf fast 75% an (in den Euroländern sogar fast 80%) und 2010 waren es schon 80% (in den Euroländern sogar 85%).

Damit wird auch die falsche Annahme widerlegt, dass die Märkte die Solvenz von Staaten richtig einschätzen. Schließlich wurde Spanien mehrfach herabgestuft und der Absturz des Landes ist wohl kaum noch aufzuhalten, obwohl es eines der EU-Länder ist, dessen Staatsverschuldung mit gut 60% deutlich unter dem Durchschnitt liegt. Die Schuld für steigende Verschuldung wird aber nicht nur der Krise zugeschrieben, sondern auch einer "steuerlichen Konterrevolution". So seien zum Beispiel in Frankreich zwischen 2000 und 2010 Steuergeschenke im Gesamtbetrag von 100 Milliarden Euro verteilt worden, weil stets behauptet wird, dass damit automatisch wirtschaftliches Wachstum gefördert werde. Tatsache ist, dass damit aber die sozialen Ungleichheiten verschärft wurden.

Beleuchtet werden auch andere Gemeinplätze wie die Mär, dass der Euro vor der Krise schützt, die Finanzmärkte das Wachstum fördern, die Finanzmärkte beruhigt werden müssen… und die Griechenland-Krise zu Schritten in Richtung einer europäischen Wirtschaftsregierung führe. Insgesamt ist es ein sehr lesenswertes Dokument. Das gilt schon deshalb, weil hier nicht nationale Alleingänge gefordert werden, wie sie der frühere Attac-Chef in Frankreich Jacques Nikonoff fordert und sich mit seiner Wunschliste an den Weihnachtsmann deutlich rechtspopulistischen Positionen des Front National annähert.

Neben den jeweils vorgeschlagenen Einzelmaßnahmen fordern die Autoren den Abschied vom Konsens-Prinzip. Sie verweisen dabei auch auf die Entstehung der Europäischen Union. Ein Bruch mit der derzeitigen Linie, die tief in den Sumpf führt, werde sicherlich nicht von allen 27 EU-Mitgliedsstaaten gleichzeitig vorgenommen. Eine Neugründung, bei der verschiedene Länder alternative Wege einschlagen, werde ebenfalls nur von einem Teil gegangen, wird an die Gründung des Staatenbunds durch nur sechs Staaten erinnert. Es werde zu Abkommen zwischen verschiedenen Staaten kommen.

Some national governments will take innovative measures. Those who will desire to do so will adopt enhanced co-operations to take bold steps in the realms of financial regulation, and fiscal and social policy. Through specific measures these countries will hold out their hands to other peoples, so that they can join the movement.