Zum China-Bild des Westens: Fifty Shades of Yellow
Können wir es uns leisten, China weiterhin zu unterschätzen? Wie der Westen sich in die Sackgasse befördert. Ein Essay.
"Ich sage nur Kina, Kina, Kina", das ist eines der bekanntesten Zitate aus der Adenauer-Zeit der alten Bundesrepublik. Es ging damals um die Westbindung und die ideologische Abwehr des Sozialismus, der nach dem Sieg der Kommunisten in China die sowjetische Bedrohung zu potenzieren schien.
Für die älteren Deutschen der Nachkriegszeit passte das zu den Erinnerungen an die Nazi-Propaganda, die asiatische Elemente unter den Ethnien der Sowjetunion als besondere Bedrohung der europäischen Kultur herausgestellt hatte.
In der allgemeinen Wahrnehmung nach dem Krieg war China weit weg, traditionell verniedlicht durch das Kinderlied von den drei Chinesen mit dem Kontrabass und beliebte Karnevalskostüme mit konischen Hüten mitsamt künstlichem Zopf.
Aus der kollektiven Erinnerung nahezu getilgt ist die Beteiligung des deutschen Kaiserreichs an der kolonialen Ausbeutung Chinas nach den verheerenden Opiumkriegen. Mit erheblichem Militäreinsatz hatte sich Deutschland 1900 einen wichtigen Hafen und eine Musterkolonie im heutigen Qingdao angeeignet, aber mit dem Ende des Ersten Weltkriegs wieder verloren.
China in der deutschen Wahrnehmung
Übriggeblieben ist vor Ort eine der größten Brauereien Asiens. Wer aber in Deutschland heute ein Tsingtao-Bier trinkt, dürfte kaum an die koloniale Vergangenheit denken.
Die chinesische Kulturrevolution brachte auf die schwarz-weißen Fernsehbildschirme der Deutschen befremdliche Bilder und Berichte über chaotische Zustände und den unverständlichen Personenkult um Mao Tse Dong.
Wirtschaftlich konnte man China nach dieser Krisenzeit lange vergessen, bis Deng Xiao Ping Anfang der 1980er-Jahre das chinesische Wirtschaftswunder einleitete. Nach Angaben der Weltbank sind in den vergangenen 40 Jahren rund 800 Millionen Chinesen der Armut entwachsen und zu Konsumenten geworden, die auch zunehmend als Touristen die Welt bereisen.
Aber vor allem haben fleißige und weit unter deutschen Löhnen arbeitende Chinesen eine Massenproduktion von nützlichen Artikeln zu Exportschlagern gemacht, die oft noch als "Chinaschrott" abgetan werden, was ihrem Absatz aber kaum geschadet hat.
Weniger beachtet, auch von den deutschen Medien, vollzog sich der rasante technologische Aufholprozess der chinesischen Wirtschaft. Er ist in mancher Hinsicht mit dem industriellen Aufstieg Deutschland nach der Reichsgründung von 1871 vergleichbar oder der Aufholjagd der japanischen Industrie nach dem Zweiten Weltkrieg.
Als Großbritannien die deutsche Konkurrenz als Gefahr für die nationale Sicherheit erkannte, warf man Deutschland unfaire Handelspraktiken vor. Das sind auch heute die gängigen Argumente in der EU für Strafzölle.
Mit Japan war der Westen nachsichtiger, weil es als Verbündeter gegen den sowjetischen und chinesischen Kommunismus galt. Inzwischen ist die erfolgreiche Modernisierung Chinas und seiner Exportwirtschaft nicht mehr zu übersehen.
Dass vor allem im Elektronikbereich die Auftragsfertigung von Computern und Smartphones von westlichen Großkonzernen selbst zum Technologietransfer erheblich beigetragen hat, wurde lange ignoriert, weil es so profitabel war. Aus der Auftragsfertigung ist allerdings in den vergangenen Jahren eine erstaunliche Innovationskraft der chinesischen Industrie entstanden.
Dazu hat auch die staatliche Förderung des Bildungssystems beigetragen, die auf eine ohnehin traditionelle Wertschätzung von Lernen und Bildung traf. Dazu trugen auch Hunderttausende von chinesischen Studenten bei, die an westlichen Eliteuniversitäten Gelerntes nach Rückkehr in die Heimat in den Modernisierungsprozess einbrachten.
Daraus ist inzwischen eine Führungsrolle in verschiedenen Bereichen von Technik und Forschung entstanden, etwa bei Fusionsreaktoren oder Quantencomputern und vielen anderen mehr.
In Deutschland wird die sichtbar werdende Technologieführerschaft bei E-Autos zum gefährlichen Dilemma, denn die deutschen Premiumhersteller haben bisher einen bedeutenden Anteil ihrer Gewinne durch den Absatz in China erzielt.
Die anderen europäischen Hersteller sitzen im gleichen Boot, allerdings ohne vergleichbare Erfahrungen und Kooperationen mit chinesischen Partnern wie Volkswagen und Mercedes. Der übliche Reflex westlicher Freihandelsapologeten ist dann wie immer die Einführung von Strafzöllen, für die EU etwas milder als in den USA, aber mit der gleichen Absicht zum Schutz der eigenen Autoindustrie.
Dabei haben die westlichen Hersteller fast alle die wichtige Rohstoffsicherung für die Batterieproduktion vernachlässigt und sind eher zögerlich den politischen Vorgaben gefolgt, die ihnen aus umweltpolitischen Gründen aufgezwungen wurden.
In welchem Ausmaß China inzwischen zur Werkbank der Welt geworden ist, hat Statista kürzlich mit einer beeindruckenden Zahl belegt. 2023 stammten ganze 71 Prozent der von Amazon weltweit verkauften Waren aus China, nur sechs Prozent aus Deutschland.
An einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit China wird in den nächsten Jahrzehnten kein Weg vorbeigehen, während die EU-Vorgaben zum De-Risking eher ins Risiko zu führen scheinen. Politik und Wirtschaftsinteressen klaffen zurzeit weit auseinander, wobei die Brüsseler Perspektiven offenbar erheblich von amerikanischen Positionen beeinflusst werden.
Die USA und China
Die amerikanische Perspektive unterscheidet sich historisch deutlich von der deutschen, obwohl das deutsche Kaiserreich und die aufstrebenden USA nach dem Bürgerkrieg fast identische koloniale Interessen in China verfolgt hatten. Mit den schnellsten Segelschiffen ihrer Zeit, den legendären Clippern, hatten amerikanische Händler an der Ostküste den Engländern erhebliche Teile des lukrativen Opiumhandels mit China abgenommen.
Handels- und christliche Missionsinteressen ließen die USA nach den Opiumkriegen zunächst eine offene Politik gegenüber China verfolgen. Der Burlingame-Vertrag von 1868 verlieh China den "most favored nation"-Status und öffnete die Grenzen für Migranten aus den verarmten Gebieten des geschwächten Qing-Imperiums. In mehreren Wellen wanderten immer mehr Chinesen in die USA ein, 1882 waren es mehr als 300.000.
Zunächst waren sie als willige und weitgehend unterbezahlte Arbeitskräfte willkommen. Beim Bau der transkontinentalen Bahnlinien trugen sie erheblich zur Erschließung des Wilden Westens bei oder schlugen sich mit kleinen Wäschereien und preiswerten Restaurants durch.
Die Stimmung unter den Amerikanern früherer Migrationswellen aus Europa schlug aber bald um. Die zahlreich im Internet zugänglichen Karikaturen dieser Epoche spiegeln drastisch die rassistischen Forderungen wider, die Chinesen mit einem symbolischen Fußtritt aus dem Land zu werfen.
Das hatte erstaunlich schnell politische und gesetzgeberische Folgen. Schon 1882 verbot der "Chinese Exclusion Act" die Einreise von chinesischen Migranten. Ausgenommen blieben Geschäftsleute, Lehrer, Studenten, Touristen und Diplomaten. Ursprünglich war das Gesetz auf zehn Jahre beschränkt, wurde aber immer wieder verlängert, bis 1902 die Zeitbegrenzung aufgehoben wurde. Es blieb bis 1943 in Kraft und wurde danach in kleinen Schritten gelockert, bis 1965 die jeweiligen nationalen Einwanderungsquoten ganz wegfielen.
Diskriminiert wurde aber weiter. Die Filmindustrie in Hollywood reduzierte chinesische Schauspieler seit den 1930er-Jahren auf negative Rollen als kriminelle "Dragon Lady" oder hilflose "Lotus Flower", oder Typen wie den Finsterling Dr. Fu Manchu. Den ersten Durchbruch schaffte Wong Liu Tsong mit dem Künstlernamen Mae Wong in zahlreichen "Femme Fatale"-Rollen, auch weil sie vehement gegen die Diskriminierung protestierte.
Die selektive Einwanderungspolitik hatte auch unter den Europäern bestimmte Gruppen diskriminiert, besonders Iren und Juden. Diese ließen sich allerdings mittelfristig assimilieren, während den Nachfahren der afrikanischen Sklaven und weitgehend auch den Asiaten durch Psychologen und Rassenbiologen die Integrationsfähigkeit abgesprochen wurde.
Die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war besonders nach dem Sieg der Kommunisten 1949 durch eine Eiszeit zwischen den USA und der Volksrepublik China geprägt. Mit Präsident Nixons Besuch in Peking 1972 endeten 25 Jahre ohne Kommunikation, aber erst 1979 wurden offizielle diplomatische Beziehungen aufgenommen und die mit Taiwan abgebrochen.
Der Besuch, den Nixon selbst als "eine Woche, die die Welt veränderte" bezeichnete, ging in der Tat mit dem ideologischen Zerwürfnis und der politischen Entfremdung zwischen China und der Sowjetunion einher.
Der von Henry Kissinger diplomatisch vorbereitete Besuch und seine Folgen stehen für eine pragmatische Politik ohne ideologische Rücksichten und unterschiedliche Wertvorstellungen, die damals von den Republikanern und Demokraten gleichermaßen positive aufgenommen wurde.
Wirtschaftlich war die Volksrepublik damals alles andere als konkurrenzfähig, eher wegen der Bevölkerungszahl ein potenziell wachsender Absatzmarkt für amerikanische Produkte.
In den vergangenen Jahrzehnten haben Studenten und Gastforscher an amerikanischen Eliteuniversitäten, 2023 fast 290.000, einen nicht nur individuellen Lernprozess zugunsten Chinas eingeleitet, der nicht wenig zum wirtschaftlichen Aufholprozess beigetragen hat. Während die Warenherstellung in den USA und Europa zugunsten der Dienstleistungsindustrie massiv an Boden verloren hat, produziert China heute praktisch alles, was weltweit nachgefragt wird.
Zum Absatzerfolg kommen günstige Preise hinzu, die dem Niveau der einheimischen Lebenshaltungskosten entsprechen, aber im Westen als Dumping und Ausbeutung der Arbeitnehmer kritisiert werden. Dabei reagiert die chinesische Exportwirtschaft flexibel auf Nachfrage und Präferenzen bei den Handelspartnern und dringt immer mehr in Richtung hochwertige Güter mit Spitzentechnik vor.
Ein gewaltiger Vorteil ist das Arbeitskräftereservoir unter 1,4 Milliarden Einwohnern, das Schulsystem und viele traditionelle Fertigkeiten aus alten Handwerksberufen. Der niederländische Ökonom Albert Winsemius, der Lee Kuan Yew, den ersten Ministerpräsidenten Singapurs beraten hat, sprach damals von den geschickten Fingern der Chinesen. Deutsche Unternehmer kennen den Unterschied zwischen den Enkeln der Schwarzwälder Uhrenindustrie und den Werftarbeitern an Nord- und Ostsee.
Gerade in der Elektronikindustrie spielen solche unterschiedlichen Qualifikationen und Begabungen eine erhebliche Rolle und vielleicht noch mehr bei der Ausweitung der automatisierten Fertigung durch Roboter. Wie weit die wachsende industrielle Konkurrenz bei der zunehmenden Anti-China-Haltung der Amerikaner die Hauptrolle gespielt haben mag, bleibt eine offene Frage.
Die letzten Umfragen des Pew Research Center im Mai 2024 zeigen, dass in den vergangenen fünf Jahren 80 Prozent der Amerikaner eine negative Einstellung gegenüber China entwickelt haben, 43 Prozent sogar sehr negativ. Und 42 Prozent sehen China als Feind der USA. Von solcher Skepsis unterscheiden sich die Sichtweisen der US-Militärplaner, die eine direkte Bedrohung amerikanischer Interessen durch die Aufrüstung der chinesischen Streitkräfte sehen, im weitesten Sinn sogar eine militärische Bedrohung des fast 12.000 km entfernten Stadtgebiets.
Strategisch geht es natürlich um die amerikanische Dominanz im Pazifik, die die USA seit dem Sieg gegen Japan aufrechterhalten und ausgebaut haben. Rund 100 Marine- und Luftwaffenstützpunkte, 300.000 Soldaten und 60 Prozent der Kriegsflotte sind hier stationiert. Der Wettbewerb um Alliierte ist voll entbrannt, von den Philippinen als ehemaliger amerikanischer Kolonie (1898 bis 1942) als größtem Land bis zu winzigen Inselstaaten in den Weiten des Pazifiks.
Die historischen Komplikationen zwischen China und den USA spielen bei den genannten Pew-Umfragewerten sicher keine Rolle mehr. Entscheidenden Einfluss haben seit vielen Jahren die Warnungen der "China Hawks", die in intensiven Medienkampagnen, Konferenzen und Veröffentlichungen verbreitet werden.
Als jüngste in einer Reihe antikommunistischer Lobbygruppen entstand 2019 das "Committee on the Present Danger: China." Es sieht die USA existenziell und ideologisch von dem totalitären Regime in Beijing bedroht und deutet das zwischenstaatliche Verhältnis als neuen Kalten Krieg. Im Vorstand finden sich umstrittene Politiker wie Steve Bannon und der Militär-Theoretiker Frank Gaffney mit seinem Center for Security Policy.
Auch im akademischen Bereich finden sich einflussreiche "China Hawks", wie der Harvard-Politologe Graham Allison. Er stellte 2012 in der Financial Times seine Theorie der Thukydides-Falle vor. Sie besagt, dass ein Krieg zwischen den USA und China so unvermeidlich sei, wie vor 2.500 Jahren der Krieg zwischen Sparta und dem aufstrebenden Athen. Die Theorie ist auch in den USA umstritten, gehört aber zu den zahlreichen Mosaiksteinen, aus denen sich das amerikanische Chinabild zusammensetzt.
Extreme Feindbilder und Bedrohungsszenarien sind gefährlich, weil sie für Politik und Bevölkerung insgesamt die Schwelle zur militärischen Gewaltanwendung leichter überwindbar machen können.
Der gerade von Donald Trump als Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten nominierte James David Vance gilt ebenfalls als "China Hawk." Damit ist bei einem Wahlsieg zu befürchten, dass Trumps These "Die Chinesen stehlen amerikanische Jobs" die Beziehungen auch weiterhin erschweren wird.