Zwei Tage lang Betroffenheit

In Berlin ging die Antisemitismuskonferenz der OSZE zu Ende

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Gleich zu Begin der Antisemitismuskonferenz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa präsentierte:: deren Vorsitzender, der bulgarische Außenminister Solomon Passy, schon die Lösung des Problems: Bildung sei der Schlüssel zur Bekämpfung von Antisemitismus. Gleich im Anschluss warnte der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, durchaus begründet und zwei Tage vor der EU-Osterweiterung zum passenden Zeitpunkt vor einer "traditionellen Judenfeindlichkeit in Osteuropa". Konnte man nach dem ersten Tag der viel beachteten Konferenz am Donnerstag also mit der Erkenntnis nach Hause gehen, dass Osteuropäer ungebildet und die intellektuellen Brandstifter der "Neuen Rechten" in Deutschland gar kein Problem sind? Mitnichten.

Die beiden Konferenztage samt ihrem am Ende verabschiedeten Aktionsprogramm, der Berliner Erklärung, waren vor allem eine Bühne für politische Akteure. Mit der gesellschaftlichen Realität hatte das nur wenig zu tun. Bei der Binsenweisheit, dass Politiker gemeinhin viel reden und wenig tun, könnte man es belassen, steckte hinter solchen Inszenierungen nicht System. Die Debatte soll kanalisiert, eine ernsthafte Analyse des Problems verhindert werden. So ging es im Auswärtigen Amt, in dem die Debatten unter höchster Sicherheitsstufe stattfanden, vor allem um die Kritik an Israel.

Eröffnet wurde die Diskussion von Bundespräsident Johannes Rau, der im üblichen salbungsvollen Ton predigte, dass hinter "mancher Kritik" an der Politik der israelischen Regierung "massiver Antisemitismus" stecke. Daher sei "besondere Wachsamkeit und besondere Sorgfalt" notwendig. Wofür sich jeder Erstsemesterstudent vom Politologiedozenten wegen definitorischer Schwäche eine Rüge einhandeln würde, bekam Rau am Donnerstag anhaltenden Applaus.

Andere Redner versuchten, solch populistische Verflachungen auszugleichen. Israel Singer, der Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses, wandte sich gegen die These, Kritik an Israel sei partout judenfeindlich. Antisemitismus sei dann festzustellen, wenn den Juden das Recht auf einen eigenen Staat abgesprochen werde, so Singer, ein bekannter Gegner der amtierenden Scharon-Regierung. Ansonsten blieb alles beim Alten. Gefordert wurde mehr Zivilcourage, Selbstverpflichtungen von Regierungen und ganz viel Wachsamkeit.

Nimmt man die Redner aber beim Wort, sieht es düster aus. Nachdem sich der deutsche Außenminister Joseph Fischer über den "Vertrauensbeweis" freute, den die Teilnehmer Deutschland mit der Ausrichtung der Konferenz in Berlin erbracht hätten, bezeichnete er es als "Gradmesser einer demokratischen und offenen Gesellschaft", wie willkommen und sicher sich jüdische Menschen fühlten.

Wagen wir also einen Blick auf die Statistik: Das "Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin" erstellt jährlich Pressespiegel über antisemitisch motivierte Straftaten. Demnach war das Thema Antisemitismus in Deutschland auch im Jahr 2003 "Anlass breiter gesellschaftlicher Debatten". Der Fall des CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann (Der Wortlaut der Rede von MdB Martin Hohmann zum Nationalfeiertag) etwa habe "die Latenz und (verbale) Aggressivität antisemitischer Haltungen nicht nur am rechtskonservativen Rand der Unionsparteien demonstriert".

Dieses negative Bild unterscheidet sich nicht von dem der Vorjahre. Im Jahr 2001 etwa hatte sich der deutsche Vertreter vor dem Rassismusausschuss der UN in Genf entschuldigen müssen, weil rechtsextreme, rassistische und antisemitische Straftaten um 58 Prozent zugenommen hatten. Dies sei eine "Schande für unser Land", gestand der Diplomat damals. Wenig später kritisierte der Europarat "anhaltende ausländerfeindliche und antisemitische Übergriffe in Deutschland".

Anstatt sich aber mit den Ursachen auseinander zu setzen, wurden auch in Berlin wieder nur Scheindebatten geführt. Natürlich ist der Antisemitismus in der politischen Debatte um Israel ein Problem. Aber auch ohne die dafür verantwortlichen Gruppen würde das gesellschaftliche Phänomen wohl nicht angegangen. Beachtete man die Parallelen zwischen Juden- und genereller Fremdenfeindlichkeit, ließen sich konkretere Analysen erstellen. Auch wäre es dann leichter zu durchschauen, dass ein aktueller Zeitungskommentar über die Berliner Konferenz, in dem die "gewaltigen Entwicklungsdefizite der arabischen Gesellschaften" beklagt werden, mehr Teil denn Lösung des Problems ist.

Eine Studie des Vidal Sassoon Zentrum für Antisemitismusstudien bezeichnete es 1994 als eine Ursache des Antisemitismus in Osteuropa, dass rechte Gruppen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks eine Frontstellung gegen "diffuse externe Gefahren" bezogen. In Anbetracht des sozialen Zusammenbruchs der osteuropäischen Gesellschaften hatten sie mit diesem Fingerzeig auf westliche Invasoren zweifelhaften politischen Erfolg. Dass Juden wieder zuviel Macht hätten, glaubten nach einer Meinungsstudie Mitte der 90er Jahre 31 Prozent der Befragten in Polen und 42 Prozent in der Slowakei. In Tschechien war ein Viertel der Menschen überzeugt, dass der (in seinen sozialen Auswirkungen als negativ bewertete) Umbruch 1989 ein "Werk von Juden und Freimaurern" gewesen sei.

Die soziale Realität wird gesellschaftliche Verfallsphänomene wie Rassismus und Antisemitismus also weiter begünstigen. Ebenso ein Zwei-Klassen-Europa, das mit der Osterweiterung am Samstag aus der Taufe gehoben wird. Konkret: Eine Gesellschaft, die ihre Grenzen für Flüchtlinge schließt und Misshandlungen von Abschiebehäftligen akzeptiert, darf sich über Brandanschläge auf Synagogen nicht wundern. Der Friedensnobelpreisträger und Shoa-Überlebende Elie Wiesel fragte in Berlin in einer der wenigen bewegenden Reden: "Wenn Auschwitz den Antisemitismus nicht töten konnte - was dann?" Diese Konferenz sicher nicht.