Zwischen Panik, Deeskalationsbemühungen und Bewunderung
Wie reagieren die postsozialistischen Staaten Mittelosteuropas auf die eskalierende Krise in der Ukraine?
1. September, festlicher Schulbeginn in der dritten Klasse einer Grundschule in der polnischen Kleinstadt Leszno. In Anspielung auf den Beginn des Zweiten Weltkrieges fragt die Lehrerin in die Runde der herausgeputzten Kids, ob sie wüssten, welches historische Ereignis vor 75 Jahren über Europa hereinbrach. Der richtigen Antwort folgt sogleich die Frage, ob wir uns bereits am Beginn des Dritten Weltkrieges befänden. Betretenes Schweigen der Pädagogin. Doch den Kindern brennt diese Frage auf der Seele.
Es entwickelt sich eine kurze Diskussion, in der die Grundschüler offensichtlich all die Befürchtungen wiedergeben, die sie von ihren Eltern und Verwandten aufgeschnappt haben, bis die Lehrerin dem ein Ende bereitet, indem sie erklärt, dass der Krieg doch hoffentlich auf die Ukraine beschränkt bleiben werde.
Diese Episode bringt die Folgen einer mitunter ins Hysterische abdriftenden, strickt antirussischen Berichterstattung über den Konflikt in der Ukraine zum Ausdruck, die in nahezu allen polnischen Massenmedien praktiziert wird. Immer wieder werden Analogien zwischen der Russischen Föderation unter Wladimir Putin und dem Aufstieg Nazideutschlands gezogen.
"Der September 1939 darf sich nicht wiederholen"
In einem an die internationale Gemeinschaft gerichteten Appell, der eine Verschärfung der antirussischen Front in Europa forderte, zogen polnische Intellektuelle eine historische Parallele zwischen dem Annektionsgelüsten Nazideutschlands bezüglich der Stadt Gdansk in 1939, und dem gegenwärtigen Bürgerkrieg in Donezk und anderen Städten der Ostukraine.
Das Trauma des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 lebt in der polnischen Öffentlichkeit wieder auf, in der eine russische Invasion Polens tatsächlich für möglich gehalten und ernsthaft diskutiert wird. Eine Blitzumfrage des Internetportals Wirtualna Polska ergab, dass die Mehrheit der Befragten Polen im Falle eines solchen Angriffs wieder, trotz NATO-Mitgliedschaft, auf sich selbst gestellt sehe: "Niemand wird einen Finger für uns rühren", alles werde sich "wie 1939" abspielen, so resümierte das Internetportal die Stimmung unter seinen den Befragten.
Schon Anfang August - also noch vor der aktuellen Eskalation in der Ostukraine - sah sich nahezu die Hälfte aller Teilnehmer einer für das Magazin Neewsweek Polska durchgeführten Umfrage durch das Agieren Russlands in der Ukrainekrise "persönlich bedroht".
Anne Applebaum, US-Journalistin und Ehefrau des polnischen Verteidigungsministers Sikorski, brachte diese antirussische Hysterie in einem Kommentar für das US-Magazin Slate auf den Punkt. In dem Beitrag suggeriert Applebaum, dass der Kreml ernsthaft über "begrenzte Nuklearschläge" gegen die baltischen Staaten und polnische Städte nachdenke - und spricht sich dafür aus, sich auf einen "totalen Krieg" gegen Russland vorzubereiten. Auch hier wird die Analogie zwischen dem "Sommer 1939" und dem "Sommer 2014" gezogen.
Diese ahistorische und willkürliche Gleichsetzung zwischen Nazideutschland und der Russischen Föderation bemühte auch Polens Premier Donald Tusk bei dem offiziellen Staatsakt anlässlich des 75. Jahrestages des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges in Westerplatte: "Der September 1939 darf sich nicht wiederholen", sagte Tusk wörtlich unter Verweis auf den Krieg in der Ostukraine.
"Sieg in einer entscheidenden Schlacht": Die Nominierung Tusks als europäischer Ratspräsident
Die Rede des scheidenden polnischen Premiers sei auch international aufmerksam verfolgt worden, bemerkte die Gazeta Wyborcza. Der künftige europäische Ratspräsident dürfte hier erste Hinweise auf seinen künftigen politischen Kurs geben. Tatsächlich sprach sich Tusk für eine Stärkung der Strukturen der NATO aus, die auf dem Gipfeltreffen diese Woche in Angriff genommen werden solle. Tusk will somit die geplante stärkere Präsenz der NATO in Osteuropa als eine historische Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg verstanden wissen.
Die Nominierung Tusks auf diesen Spitzenposten der EU-Bürokratie kann getrost als ein Erfolg der transatlantischen Kräfte innerhalb der Europäischen Union gewertet werden, die eine engere Kooperation mit den USA mit einer entschiedenen Frontstellung gegenüber Russland koppeln. Britische Medien berichteten offen, dass der britische Premier Cameron massiv Tusk als "seinen" Kandidaten unterstützte.
Die Ernennung des polnischen Ministerpräsidenten stelle für Cameron einen "Sieg in einer entscheidenden Schlacht" dar, bemerkte der britische Telegraph, da Tusk eine umfassende Reform der EU gemäß britischen Vorstellungen zugesagt habe. Den Tories gehe es hierbei vor allem um eine Aushöhlung der Arbeitnehmerfreizügigkeit:
Cameron plant die Einführung von Begrenzungen von Sozialzahlungen für Arbeitsmigranten aus anderen EU-Staaten
Um sich seinen EU-Spitzenposten zu sichern, hat Tusk somit die Interessen der polnischen Arbeitsmigranten in Großbritannien hintergangen.
Gipfelpunkt antirussischer Hysterie: die baltischen Staaten
Großbritannien wiederum revanchierte sich mit der Ankündigung der Aufstellung einer schnellen Eingreiftruppe für Osteuropa, der bis zu 10 000 Soldaten aus sieben Mitgliedsländern des Militärbündnisses angehören sollen (Nato: Neue Eingreiftruppe für Osteuropa geplant). Polen drängt zudem gemeinsam mit den baltischen Staaten darauf, dass die in Rumänien stationierte US-Raketenabwehr künftig ausdrücklich gegen Russland in Stellung gebracht werde.
Generell ist bei vielen mittelosteuropäischen Ländern die geopolitischen Tendenz dominant, sich mittels einer möglichst engen transatlantischen Anbindung vor einem Souveränitätsverlust abzusichern, der im Falle einer etwaigen deutsch-russischen Allianzbildung befürchtet wird. Die Bemühungen Washingtons, einen Keil zwischen Europa und Russland zu treiben, um die Formierung eines geschlossenen eurasischen Machtblocks zu verhindern, stoßen hier auf fruchtbaren Boden.
Den Gipfelpunkt antirussischer Hysterie haben aber die baltischen Staaten erklommen, die sich in einem Zustand permanenter Panik zu befinden scheinen. Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaite hat ende August allen Ernstes ein Gesetzesvorhaben angeregt, das die Ausstrahlung russischer Fernsehsender in dem baltischen Staat beschränken soll.
Rund 30 Prozent der Fernsehprogramme in Litauen werden in russischer Sprache gesendet. Laut Grybauskaite stelle die zunehmenden "Informationsangriffe und die feindliche Propaganda" aus dem Osten eine "Bedrohung für die Demokratie und die Sicherheit des Staates" dar, da sie "mit Kriegshetze und dem Schüren von Hass sowie Desinformationen" durchsetzt seien.
Grybauskaite sprach sich auch dafür aus, der Kiewer Führung schnellstens "militärisches Material" zu liefern, da "die Ukraine einen Krieg im Namen von ganz Europa" führe: "Das heißt, Russland ist praktisch im Krieg gegen Europa", behauptete Grybauskaite Ende August.
Alle drei baltischen Staaten haben zudem Anfang August ihre Bereitschaft erklärt, der ukrainischen Regierung dahin gehend zu folgen, die abtrünnigen ukrainischen Volksrepubliken Donezk und Lugansk als "terroristische Organisationen" zu klassifizieren. Der Frontstellung gegen Russland werden selbst die ureigensten ökonomischen Interessen untergeordnet.
Obwohl die drei Ostseeländer am stärksten von den bisherigen russischen Wirtschaftssanktionen - namentlich von den Importverbot von Nahrungsmitteln - betroffen sind, sprachen sich etwa estnische Politiker für eine weitere Verschärfung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland aus.
Die antirussische Hysterie im Baltikum wird vor allem durch einen demografischen Faktor angeheizt. In den drei Republiken lebt eine russische Minderheit, die rund eine Millione Menschen umfasst. Aufgrund restriktiver Staatsbürgerschaftsgesetze, die oft umfassende Sprachkenntnisse erfordern und Treueschwüre auf die verfassungsmäßigen Ordnung vorsehen, hat ein großer Teil dieser Minderheit noch immer nicht die volle Staatsbürgerschaft erwerben können, was russische Vorwürfe einer Diskriminierung dieser Minderheit zur Folge hat.
In den baltischen Staaten und auch in Polen werden deswegen immer wieder Analogien zwischen der nationalsozialistischen deutschen Volkstumspolitik im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges und der derzeitigen russischen Politik gezogen.
Wieder mal werden Parallelen zwischen 1939 und dem 21. Jahrhundert bemüht. Das Argument verläuft in etwa folgendermaßen: So wie die Nazis die Frage der deutschen Minderheiten etwa in Tschechien (Sudetendeutsche) zur Legitimierung ihrer Expansionsbestrebungen nutzten, um die "Schande von Versailles" auszumerzen, so versuche Russland nun die Minderheitenfragen in den postsowjetischen Ländern auszunutzen, um den Zusammenbruch des "Sowjetimperiums" zu revidieren.
Andere Einschätzungen vom tschechischen Staatspräsidenten Milos Zeman
Nicht alle Länder Mittelosteuropas reihen sich in diese antirussische Front ein. Der tschechische Staatspräsident Milos Zeman etwa gab jüngst eine ganz andere Einschätzung der Vorgänge in der Ukraine. Laut Zeman handele es sich bei der Krise nicht um eine russische Invasion, sondern um einen Bürgerkrieg, während die prowestlichen Proteste auf dem Maidan auch als eine "Brutstätte des Banderawismus" fungierten.
Zeman spielt hier auf die Dominanz rechtsextremer Kräfte innerhalb der prowestlichen Kräfte in Kiew an (vgl. "Ukraine über Alles!", die sich an dem faschistischen ukrainischen Nazi-Kollaborateur Stephan Bandera orientieren, unter dessen Führung ukrainische Faschisten Hunderttausende Juden, Polen und Kommunisten während der Deutschen Besatzungszeit ermordeten.
Ende August klagte etwa die polnische Gazeta Wyborcza, dass sich in der tschechischen Öffentlichkeit die Anhängerschaft der Ukraine in der Minderheit befinde. Die lukrativen wirtschaftlichen Kontakte nach Russland und eine prorussische Haltung bei der tschechischen Linken (Kommunisten und Sozialdemokraten) wie in Teilen der antieuropäischen Rechten hätten dazu beigetragen, dass Ukrainer - die oftmals als Arbeitsmigranten tätig sind - weitgehend als "Banditen und Bandera-Anhänger" wahrgenommen würden, während Hunderttausende von russischen Touristen als willkommene Devisenbringer gelten. Sowohl der ehemalige tschechische Präsident Vaclav Klaus wie auch der derzeitige Amtsinhaber Milosz Zeman gelten laut Wyborcza als russophil.
Slowakei: Gegen eine Verschärfung der Sanktionen gegen Russland
Zeman sprach sich etwa Anfang August ausdrücklich dafür aus, die Handelsbeziehungen mit Russland nicht weiter zu belasten. Ähnlich argumentierte der slowakische Ministerpräsident Robert Fico, der bei den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des antifaschistischen Aufstandes von 29. August 1944 in der Slowakei die westlichen Sanktionen gegenüber Russland scharf kritisierte.
Der slowakische Sozialist Fico zog im Beisein des russischen Verteidigungsministers ganz andere historische Analogien zu dem Kampf gegen den Nationalsozialismus als sein polnischer Amtskollege:
Statt die richtigen Schlussfolgerungen aus den Geschehnissen vor 70 Jahren zu ziehen, fällen wir Entscheidungen, die die Spannungen ansteigen lassen und das Wirtschaftswachstum bremsen.
Sowohl Tschechien wie auch die Slowakei sprachen sich zudem gegen eine weitere Verschärfung der Sanktionen des Westens gegen Russland aus. Innerhalb der Visegrád-Gruppe - eines losen regionalen Bündnisses der Mittelosteuropäischen Länder Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn - steht Polen inzwischen mit einer Forderung nach einer Verschärfung der Sanktionen isoliert da.
Viktor Orban: angezogen von den autoritären Momenten des putinischen Russlands
Neben dem linksgerichteten slowakischen Premier Rober Fico gilt vor allem der stramm rechte ungarische Regierungschef Viktor Orban als der wichtigste europäische Fürsprecher Putins. Das US-Magazin Foreign Affairs hat Orban gar als "Moskaus trojanisches Pferd" innerhalb der EU bezeichnet.
Während die Deeskalationsbemühungen des tschechischen Präsidenten und des slowakischen Premiers von der Sorge um die ökonomische Lage ihrer Länder und die geopolitische Stabilität Europas getragen werden, spielen bei Orban vor allem ideologische Motive eine wichtige Rolle. Es sind die autoritären Momente des putinischen Russlands, die anziehend auf den machtbewussten ungarischen Regierungschef wirken, der in seiner Regierungszeit vor allem damit beschäftigt war, eine völkische Ideologie (Ungarn: "Kultur des Faschismus") zu propagieren, die verbliebenen bürgerlich-demokratischen Freiheiten und Institutionen auszuhöhlen und ein drakonisches Zwangsarbeitsregime einzuführen.
Vor etwas mehr als einem Monat bekannte sich Orban zu einem neuen Politikmodell, den er den Namen "illiberale Demokratie" verpasste und in scharfer Abgrenzung zu "dem Westen" benutzte. Amerika erlebe laut Orban einen imperialen Abstieg, und liberale Werte würden heutzutage nur noch "Korruption, Sex und Gewalt" umfassen, während Westeuropa zu einem "Land der Schmarotzer" verkommen wäre, die "auf dem Rücken von Wohlfahrtssystemen" gemästet würden.
Die "illiberalen" Modelle der Zukunft fänden sich laut Orban in "Russland, Türkei, China, Singapur und Indien". Es sei wichtig zu begreifen, dass "Systeme, die nicht westlich, nicht liberal, nicht liberal-demokratisch und vielleicht überhaupt nicht demokratisch sind, ihren Nationen nichtsdestotrotz zum Erfolg verhelfen".
Damit betätigt sich Orban tatsächlich als Trendsetter, der die krisenbedingte Zunahme autoritärer Tendenzen in den meisten Gesellschaften zu einem ideologischen Projekt stilisiert.