Corona-Pandemie: Evidenz als Phrase

Ein Gastkommentar zu den Verfechtern einer "evidenzbasieren Coronabekämpfung"

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Am Donnerstag berichtete hier Peter Nowak (gelegentlicher Ko-Autor von mir auf anderen Webseiten und zu anderen Themen) unter der Überschrift "Lockdown 2.0 und das Versagen der Politik". Im Artikel-Lead hieß es: "Die Verfechter einer evidenzbasieren Coronabekämpfung melden sich zu Wort. Doch werden sie sich durchsetzen?"

Hoffentlich nicht, denn mit Beweisen (engl. evidence) sieht es in dem Artikel sowie in dem Papier der niedergelassenen Ärzten und Ärztinnen, auf das sich der Artikel beruft, mau aus:

  • Der Autor schreibt, es seien "aktuell gerade mal sechs Prozent der Intensivbetten mit Covid-19-Patienten belegt."
    Das ist empirisch zutreffend, ist aber ohne Kontextinformationen ohne Aussagekraft. Denn dass nur "sechs Prozent der Intensivbetten mit Covid-19-Patienten" belegt sind, heißt ja nicht, dass 94 Prozent der Betten frei sind. Es sind zwar in der Tat noch ziemlich viele frei – nämlich rund 7.970 (Stand: 01.11.2020). Aber es gibt in der BRD auch bereits 2.061 Covid-19-Intensivpatienten und Intensivpatientinnen1 - das heißt: Bei einer weiteren Vervierfachung ist erst einmal Ende der Fahnenstange.

    Es gibt zwar auch noch eine Notfallreserve von knapp 13.000 Betten2 - aber nicht einmal für alle rund 28.000 regulären Intensivbetten gibt es auch Intensivpfleger und Intensivpflegerinnen3.

    Damit müssen wir zu der zweiten Kontextinformation kommen, die in dem Artikel fehlt: Wir haben es ja nicht mit einer statischen Lage, sondern mit einem dynamischen Prozess zu tun. Ich sagte eben: "Bei einer weiteren Vervierfachung ist erst einmal Ende der Fahnenstange." Wenn wir die im Moment 2.061 Covid-19-IntensivpatientInnen durch vier teilen, können wir die Zeitdauer feststellen, die es für die letzte Vervierfachung der Zahl der Covid-19-Intensivpatienten brauchte: 2.061 durch 4 sind 515.
Schaubild 1: Quellenangaben am Ende des Artikels; die Positivquote für die 44. Kalenderwoche wird erst am Mittwoch veröffentlicht werden. Evident ist, dass ohne die am 14. und 28.10. vereinbarten zusätzlichen Infektionsschutzmaßnahmen die Kurven mit der Geschwindigkeit der letzten Wochen weiter steigen würden - vermutlich sogar etwas stärker, da die am 14.10. vereinbarten Maßnahmen bereits zu einer gewissen Verlangsamung des Anstiegs jedenfalls der gelben Kurve geführt haben dürften.

In etwa 515 (nämlich: 510) Covid-19-Intensivpatienten gab es zuletzt am 9. Oktober. Die letzte Vervierfachung hat also etwas mehr als drei Wochen gedauert (von Freitag, den 09. Oktober bis Sonntag, den 1. November). Das heißt, wenn sich die Mittwoch von der Bundeskanzlerin und den Regierungschefs der Bundesländer getroffenen Vereinbarungen4 nicht vorher lindernd auswirken, werden in drei weiteren Wochen alle Intensivbetten in der BRD belegt sein, es sei denn, es werden wieder – wie im Frühjahr – verschiebbare Operationen aufgeschoben.5Auch eine solche - für Patienten und Patientinnen nicht immer6 erfreuliche - Aufschiebung soll mit dem am Mittwoch vereinbarten Semi-Lockdown vermieden werden.

  • Nun macht der Autor geltend: "Zudem ergibt sich natürlich die Frage, warum in den letzten Monaten nicht massiv in den Ausbau des Gesundheitssystems investiert wurde? […]. Auch das Argument, dass es zu wenig Personal im Pflegebereich gibt, ist letztlich eine Bankrotterklärung der Politik. Warum hat sie nicht die Bedingungen für die Beschäftigten verbessert, beispielsweise durch höhere Löhne? Dann würden sich sicher auch mehr Menschen dort engagieren."

    Die mit diesen Sätzen ausgedrückte politische Haltung ist auch mir sehr sympathisch, aber sie gehen in der konkreten Situation daran vorbei, dass höhere Löhne in den Pflegeberufen kurzfristig allenfalls dazu geeignet sind, geeignet Ausgebildete wieder in den Beruf zurückzuholen. In Bezug auf Leute, die gerade eine Ausbildung beginnen oder eine Umschulung machen wollen, läuft das Argument hinsichtlich der Covid-19-Pandemie ins Leere. Denn es handelt sich ja um Berufe, die eine mindestens zweijährige Berufsausbildung benötigen7 - und bei Intensivpflegeren und Intensivpflegerinnen kommen zwei Jahre Weiterbildung hinzu.8

  • Ein weiterer Vorschlag des Autors lautet: "Zudem hätte man die letzten Monate nutzen können, um gezielt Geflüchtete und Migranten, die in Deutschland leben, für Pflegearbeit zu interessieren." Auch dagegen spricht nichts prinzipiell. Aber da es eh schon einen recht hohen Anteil von osteuropäischen und asiatischen Migranten in den Pflegeberufen gibt, hört sich das so ein bisschen danach an, als ob der Autor seinen deutsch-weiß-männlichen9 Wunschtraum einer Covid-19-Pandemie ohne Lockdown auf dem Rücken von Migranten und Geflüchteten ausleben möchte.

  • Nach dieser eher dünnen Beweislage folgt dann in dem Artikel eine umso stärkere These: "Schließlich hilft die Angst vor einer Überlastung des Gesundheitssystems bei der Konditionierung der Bevölkerung, damit sie den Lockdown 2.0 möglichst widerstandslos hinnimmt."
    Dieser Satz mag zweierlei bedeuten. Wörtlich genommen bedeutet er: Die angebliche Konditionierung (durch angebliches Schüren angeblich unnötiger "Angst") soll dazu dienen, das durchzusetzen, was der Autor "Lockdown 2.0" nennt. Der jetzige Semi-Lockdown wäre also entweder Selbstzweck (welche politischen und gesellschaftlichen Kräfte sollen daran - warum? - ein Interesse haben?) oder ist Mittel zu einem anderen Zweck als Infektionsschutz (aber diesen vermeintlichen anderen Grund verraten uns nicht nur die politischen Akteure nicht, sondern verrät uns nicht einmal der Autor - nicht einmal als Mutmaßung). Probieren wir also noch die zweite Bedeutungsvariante, die eventuell gemeint (aber dann in der Formulierung schlecht zum Ausdruck gekommen) ist: Die "Konditionierung" sei der Zweck, der Lockdown nur so eine Art Beispiel dafür - und, um jene (die Konditionierung) durchzusetzen, das angebliche Schüren angeblich unnötiger "Angst" das Mittel.
    Das ist nun (beides) weder evident (im Sinne von "offensichtlich") noch bewiesen (im Sinne einer ausgearbeiteten und vorgetragenen, schrittweisen und nachvollziehbaren Beweisführung).

    Von der AfD kann ja noch angenommen werden, sie wolle zurück zur "formierten Gesellschaft" Ludwig Erhards oder dem wilhelminischen Obrigkeitsstaat - aber gerade die hält ja nun - paradoxerweise (?) - nix von Infektionsschutz. Derartige "Form[en] der Machtausübung" ("autoritäre[r] Wandel"; "umfassende Disziplinierung und Kontrolle der Bevölkerung") erscheinen dagegen für den entwickelten "Kapitalismus, insbesondere in seiner neoliberalen Ausformung, allgemein wenig nutzbringend".10

  • Als nächstes versucht es der Autor dann mit einer rhetorischen Frage: "Warum wird jetzt erneut ein Lockdown verhängt, wo in den letzten Wochen viele Fachleute und Politiker erklärten, dass es einen zweiten Lockdown schon deshalb nicht mehr geben wird, weil man mittlerweile das Virus, seine Ausbreitung und die Folgen besser als im Frühjahr kenne und deshalb zielgenauer reagieren könne?" Einfache Antwort: Weil sich auch in der Covid-19-Pandamie weder die Politiker noch die Experten einig sind; weil die Optimisten zu Unrecht optimistisch waren; und weil bei denen, die nicht Berufs-Optimisten sind, aber trotzdem ähnliches sagten, der Wunsch der Vater des Gedankens war. Es giert nämlich - wie schon im Frühjahr - niemand nach einem Lockdown, sondern er wurde am Mittwoch wieder aufgeschoben. Hinsichtlich der meisten Erwerbsarbeitsplätze blieb es bei folgendem:

    "Auch in der Pandemie wollen wir in Industrie, Handwerk und Mittelstand sicheres Arbeiten möglichst umfassend ermöglichen. Die Arbeitgeber haben eine besondere Verantwortung für ihre Mitarbeiter, um sie vor Infektionen zu schützen. Infektionsketten, die im Betrieb entstehen, sind schnell zu identifizieren. Deshalb muss jedes Unternehmen in Deutschland auch auf Grundlage einer angepassten Gefährdungsbeurteilung sowie betrieblichen Pandemieplanung ein Hygienekonzept umsetzen und angesichts der gestiegenen Infektionszahlen auch nochmals anpassen. Ziel ist u.a. nicht erforderliche Kontakte in der Belegschaft und mit Kunden zu vermeiden, allgemeine Hygienemaßnahmen umzusetzen und die Infektionsrisiken bei erforderlichen Kontakten durch besondere Hygiene-und Schutzmaßnahmen zu minimieren. Bund und Länder fordern die Unternehmen eindringlich auf, jetzt wieder angesichts der hohen Infektionszahlen, wo immer dies umsetzbar ist, Heimarbeit oder das mobile Arbeiten zu Hause zu ermöglichen. Die für den Arbeitsschutz zuständigen Behörden sowie die Unfallversicherungsträger beraten die Unternehmen dabei und führen Kontrollen durch."11

    Und die Nicht-Erwerbsarbeit in den privaten Haushalten geht eh weiter; und es werden keine Hotels beschlagnahmt, um beengt Wohnenden mehr Abstand zu ermöglichen und in Quarantäne Befindliche getrennt von ihren ständigen Mitbewohnern unterzubringen. - Eine "linke" Kritik an der herrschenden Pandemiepolitik, die Peter Nowak an anderer Stelle für sich und seine Ko-Autoren im Buch "Corona und die Demokratie. Eine linke Kritik" beansprucht12, müsste an diesen Punkten ansetzen, statt die Gefahr kleinzureden und für weniger Infektionsschutz zu plädieren.

  • Nächste rhetorische Frage des Autors: "Warum hat man also plötzlich die Grundsätze der regional abgestimmten Lösungsansätze über Bord geworden, die doch in den letzten Monaten immer mit viel Verve und guten Argumenten verteidigt wurden?" Vor allem deshalb, weil wir es - anders am Sommer - nicht mehr mit einzelnen lokalen Ausbruchsherden zu tun haben, sondern fast alle Landkreise, kreisfreien Städte und Berliner Bezirke mehr als 50 neue Fälle pro 100.000 Einwohner innerhalb der letzten 7 Tage haben.13 Die Letztentscheidung liegt im übrigen ohnehin bei den zuständigen Staatsorganen der Bundesländer, was auch tatsächlich dazu führte, dass die Vereinbarungen von Mittwoch nur mit gewissen Abweichungen von Bundesland zu Bundesland umgesetzt wurden.14

  • Sodann versucht es der Autor mit einer Behauptung: "Es [gibt] auch keine Evidenz, dass die Clubs Infektionsquellen sind." Wiederum handelt es sich kontextlos um einen wenig aussagekräftigen Satz. Denn in 75% der Fälle ist unbekannt, wo der Ansteckungsort war.15
    Das heißt: Das einzig wirksame Mittel ist eine generelle Kontaktbeschränkung16, die allerdings - anders als die herrschende Politik - auch die Lohnarbeitsplätze, soweit sie nicht versorungsnotwendig sind, nicht aussparen sollte.

  • Am Ende seines Artikels ergreift der Autor dann Partei für einen "Verfechter kapitalistischer Vernunft," Thomas Tuma, der sich im Handelsblatt zu Wort gemeldet hat, sowie für das kürzlich veröffentlichte sieben-seitige Papier von Verbänden niedergelassener Ärzte (Kassenärztliche Bundesvereinigung [KBV] u.a.), Prof. Streeck und anderen.17 Sehen wir uns beides an:

  • Tuma: "Was wäre, wenn Teile der Regierung, der 'Experten' aller Art, aber auch mancher Medien in eine Art freiwillige Corona-Schweigeklausur gingen? Sagen wir: zwei Wochen? Um die akute Welle der Hysterie, Panikmache und Untergangs-Menetekel zu brechen? Wäre das nicht ein spannendes Experiment - und vergleichsweise harmlos im Vergleich zu all den Operationen am offenen Herzen einer Gesellschaft im Ausnahmezustand, wie wir sie in den vergangenen Monaten erleben mussten?"18

    Wo sind da die Beweise, dass es sich tatsächlich um "Hysterie, Panikmache und Untergangs-Menetekel" handelt? Ohne Beweise wird einfach nur ein Vorurteil ausgedrückt. Auch einen "Ausnahmezustand" im juristischen Sinne haben wir nicht; wir haben zwar eine außergewöhnliche faktische Lage und auch außergewöhnliche rechtliche Regelungen, aber keinen Ausnahmezustand im Sinne des preußischen Königreichs, des Deutschen Kaiserreichs und - mutatis mutandis - der Weimarer Republik19; wir haben nicht einmal eine Anwendung der in den 1960er Jahre in der BRD verabschiedeten Notstandsgesetze.20 Vielmehr bewegt sich alles im Rahmen der üblichen bürgerlich-demokratischen Gesetzesvorbehalte21 und des gesetzes-konkretisierenden Verordnungsrechts der Regierungen. Allenfalls kann darüber gestritten werden, ob im vorliegenden Fall die gesetzgeberische Ermächtigung hinreichend konkret im Sinne des Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz ist: "Dabei müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetze bestimmt werden."22

  • Aus dem Papier von KBV und anderen zitiert Nowak: "Abkehr von der Eindämmung alleine durch Kontaktpersonennachverfolgung. Einführung eines bundesweit einheitlichen Ampelsystems anhand dessen sowohl auf Bundes- als auch auf Kreisebene die aktuelle Lage auf einen Blick erkennbar wird. Fokussierung der Ressourcen auf den spezifischen Schutz der Bevölkerungsgruppen, die ein hohes Risiko für schwere Krankheitsverläufe haben. Gebotskultur an erste Stelle in die Risikokommunikation setzen."

Setzen wir uns mit diesen Vorschlägen nun genauer auseinander:

  • "Abkehr von der Eindämmung alleine durch Kontaktpersonennachverfolgung." Trifft das "allein" als Beschreibung der bisherigen Strategie zu? Jedenfalls mindestens ein zweites Eindämmungsmittel wird bereits angewandt - nämlich kontakt-reduzierende Maßnahmen unterschiedlicher Art. Auch gegen diese stellen sich KBV u.a., indem sie - etwas verschwiemelt - schreiben: "Wieder auf Lockdowns zu setzen, könnte - in der Hoffnung Infektionszahlen zu senken - die reflexartige Konsequenz darauf sein."23 Die Zeit berichtete von der Pressekonferenz, auf der das Papier vorgestellt wurde: "Kurz bevor der neue Lockdown beschlossen wurde, plädierten Ärzteverbände dagegen." / "Einen teilweisen Lockdown - wie die Bundesregierung ihn am Nachmittag dann beschloss - lehnten die Unterzeichner des Positionspapiers ab."24
    Außerdem wäre interessant zu erfahren, was nach Ansicht der KBV dazukommen soll, damit die "Kontaktpersonennachverfolgung" nicht mehr (vermeintlich) "allein" steht?

  • "Einführung eines bundesweit einheitlichen Ampelsystems": Berlin hat seit langer Zeit ein Ampelsystem, was aber nicht verhindert hat, dass Berlin (146,1) mittlerweile - nach Bremen (160,3) - das Bundesland mit den meisten Neuinfektionsbestätigungen innerhalb einer Woche pro 100.000 EinwohnerIn ist25, während Berlin im Frühjahr - trotz Großstadt-Situation - Zahlen im mittleren Bereich hatte.26

    Es ist keinesfalls evident (sondern höchst unevident), dass dies durch ein "bundesweit einheitliches Ampelsystem" hätte verhindert werden können. Dies hätte vielmehr nur durch weniger Kontakte (oder vielleicht Einmal-Masken, die medizinischen Standards genügen, für alle) verhindert werden können. "Weniger Kontakte" heißt: Schnelle und striktere Isolation von Infizierten oder potentiell Infizierten (z.B. durch zur-Verfügung-Stellung von Hotelzimmern als Ersatzwohnungen; siehe oben) - und, soweit dies nicht möglich und/oder politisch nicht gewollt ist, Reduktion aller Kontakte, da Infizierten ihre Infektion ja (jedenfalls zunächst) nicht an der Nasespitze anzusehen ist (wenn erst einmal ein Schlauch drin steckt, schon!).

  • "Fokussierung der Ressourcen auf den spezifischen Schutz der Bevölkerungsgruppen, die ein hohes Risiko für schwere Krankheitsverläufe haben": Was wird denn bisher "für den spezifischen Schutz der Bevölkerungsgruppen, die ein hohes Risiko für schwere Krankheitsverläufe haben", nicht getan, obwohl es getan werden könnte? Und inwiefern handelt es sich dabei tatsächlich um einen Ressourcenkonflikt und nicht um Maßnahmen, die problemlos zusätzlich ergriffen werden könnten?
    Der "Schutz" ist eine bloße Phrase - eine bloße Legitimationsformel -, solange er nicht mit einem Spiegelstrich-Katalog von Schutzmaßnahmen untermauert ist.

  • "Gebotskultur an erste Stelle in die Risikokommunikation setzen": Also, ich für meinen Teil finde einen Staat, der mir sagt, was ich tun soll (= Gebot), viel bevormundender als einen Staat, der mir das sagt, was ich unterlassen soll (= Verbot). (Trotzdem finde ich richtig, dass der Staat mir und anderen z.Z. aufträgt, im Gedränge Masken zu tragen.)

Im letzten Absatz fragt Peter Nowak dann, "Werden auch diese Stimmen der Wissenschaft in die Ecke der Verschwörungstheorie gerückt, wie es im Frühjahr mit Wissenschaftlern geschehen ist, die der offiziellen Virologie widersprachen?"

Wahrscheinlich nicht - jedenfalls meinerseits nicht - denn diese Herren und Damen bestreiten ja nicht die Gefahr, sondern fordern auf, sie sehenden Auges in Kauf zu nehmen: "Der Rückgang der Fallzahlen ist politisch zwar eine dringende Aufgabe, aber nicht um jeden Preis."27 "auf wiederholte Nachfrage von ZEIT ONLINE und anderen Medien, welche sofort umsetzbaren Alternativen die Autoren des Positionspapiers zu dem von ihnen abgelehnten Teil-Lockdown sehen, kam auf der Pressekonferenz keine konkrete Antwort."

Um "jeden Preis" wird diese Aufgabe im übrigen eh nicht erledigt; ohne Rücksicht auf kurzfristige wirtschaftliche Interessen, hätte dies

  • im Frühjahr bedeutet, die Vereinbarungen vom 16. und 23.3. bereits am 9.3. zu treffen

und

  • jetzt nicht wiederum mit einem Lockdown, der seinen Namen verdient, zu zögern. (Das Absurde, aber kapitalistisch Typische daran ist: Es wird übersehen, dass ein Lockdown, desto später er kommt, umso länger dauern muss, wenn die Infektionszahlen wieder nach unten gedrückt werden sollen. dass der Verzicht auf Lockdowns wirtschaftlich sinnvoll sei, können nur diejenigen behaupten, die die Risikogruppen sterben und deshalb den Infektionszahlen freien Lauf lassen wollen).

Bei dem Papier von Streeck, KBV u.a. handelt es sich also nicht um eine Verschwörungstheorie (sie behaupten ja nicht, das Virus existiere nicht oder rufe keine Erkrankung hervor und das Virus bzw. die Erkrankung seien nur eine Erfindung, um endlich mal Lockdown-Maßnahmen verfügen zu können - oder ähnliche Absurditäten). Vielmehr handelt es sich bei dem Kreis um Streeck allenfalls selbst um eine Verschwörung ;-) - die allerdings gar nicht im Geheimen stattfindet, sondern auf offener Bühne propagiert wird - zur billigenden Inkaufnahme (bedingter Vorsatz) des massenhaften Todes von Rentenempfängern.

KVB-Chef Gassen behauptet zwar gegenüber der Neuen Osnabrücker Zeitung28: "'Selbst 10.000 Infektionen täglich wären kein Drama, wenn nur einer von 1000 schwer erkrankt, wie wir es im Moment beobachten.' Im Frühjahr habe es bei 4.000 Neuerkrankten täglich bis zu 150 Corona-Tote gegeben, erläuterte Gassen. 'Das ist vorbei. Jetzt sind es einstellige Sterbezahlen. Solange das Verhältnis so bleibt, sind Neuinfektionen im fünfstelligen Bereich kaum relevant.'" (meine Hv.)

Schaubild 2: Covid-19-Todesfälle in der BRD - Ausschnitt aus: Wikipedia: Todesfälle in Deutschland, Änderung der Zahl der bekannten Todesfälle gegenüber Vortag nach den Daten des RKI - Skala am rechten Rand, Markierung der ersten neun Tage des Oktober 2020 sowie ansteigende rote Linie von Donnerstag, den 08.10. bis Donnerstag, den 29.10. hinzugefügt.

Nur: Dieses Interview wurde nicht erst zusammen mit dem Papier am 28.10. veröffentlicht, sondern bereits am 10.10.2020 um 1:00 Uhr - also vermutlich bereits am Vortage geführt! Schon damals (und in den beiden Vorwochen) lagen die täglichen Covid-19-Todesfallzahlen aber bereits wieder im zweistelligen Bereich (wenn auch noch unter 20 pro Tag); in der letzten Oktober-Woche lagen sie dagegen jeden Tag über 20, mit einem Höchstwert 103 am Samstag! Von Freitag, den 9. Oktober bis Freitag, den 30. Oktober gab es eine Versiebenfachung von elf29 auf 7730 - so sieht es also mit den 'Evidenzen' des Herrn Evidenzmediziners, auf die sich Peter Nowak beruft, aus.

Ein letztes noch: Auch mit seinen 'Evidenzen' aus dem Frühjahr ("4.000 Neuerkrankte" / "150 Corona-Tote") schummelt unser Herr Evidenzmediziner:

  • Z.B. der 11. April passt halbwegs zu Gassens Zahlen: 4.133 Neuinfektionsbestätigungen und 171 neue Todesfälle31 - also ungefähr ein Verhältnis von 24:1.

  • Am 31. Oktober dagegen: 19.059 Neuinfektionsbestätigungen, aber 'nur' 103 Todesfälle - also ungefähr ein Verhältnis von 185 : 1. Also scheinbar alles ziemlich harmlos im Moment. (Allerdings kann, wenn auf 185 Neuinfektionsfälle ein Todesfall kommt32, nicht gesagt werden, es komme gar auf 1.000 Fälle nur ein schwerer Fall - außer für Herren Gassen sind nicht einmal alle Todesfälle "schwere Fälle"!)

  • Aber auch Gassen unterschlägt die entscheidenden Kontextinformation, die diese Zahlen erst analysierbar machen: Am 11. April waren wir schon wieder in einer Phase sinkender Neuinfektionsbestätigungen; aber bei den Todeszahlen wirkte noch der Höhepunkt der Infektionszahlen nach. (Die Leute sterben nicht gleich in ersten paar Tagen nach einer Infektion!)

  • Sehen wir uns also noch ein Tag aus der Phase des Anstiegs der Zahl der Neuinfektionen an - z.B. den 29.3. (kurz vor dem Höhepunkt): 3.965 Neuinfektionsbestätigungen und 'nur' 65 neue Todesfälle33 - also ungefähr ein Verhältnis von 61:1.

  • Und z.B. den 23.3. (den ersten Tag mit über 4.000 Neuinfektionsbestätigungen): 4.062 und nur 31 neue Todesfälle34 - also ungefähr ein Verhältnis von 131 : 1. Also gar nicht mehr so sehr anders als am 31.10. mit 185 : 1. (dass es trotzdem im Moment noch etwas entspannter aussieht als am 23.3. liegt an etwas verbesserten Behandlungsmethoden und vor allem daran, dass die über 80-Jährigen in der 13. Kalenderwoche die Altersgruppe mit der höchsten Inzidenz waren; diese Altersgruppe kommt im Moment aber erst auf Platz 3, während die über 80-Jährigen im Sommer, als es fast keine neuen Covid-19-Todesfälle gab, zeitweise die Altersgruppe mit der geringsten Inzidenz waren. ("Inzidenz" = Infektionsneubestätigungen pro 100.000 Menschen - hier der jeweiligen Altersgruppe.)35

Die politischen Vorschläge von Streeck und anderen gründen also bestenfalls auf prima facie-Evidenzen, die der näheren Prüfung nicht standhalten.