Freie Fahrt für Getreide aus der Ukraine?

Westliche Politiker werfen Russland vor, die Hungerkrise als Druckmittel einzusetzen, um die Sanktionen aufzuheben. Mit etwas Glück könnte es beim Streit um die Getreide-Exporte bald eine Einigung geben

Mit der wochenlangen Blockade der ukrainischen Schwarzmeerhäfen durch russische Kriegsschiffe wurden wichtige Getreidelieferungen für den Weltmarkt ausgesetzt. Neben tonnenweise Weizen warten Sonnenblumenöl, Mais Dünger und andere Güter auf ihre Ausfuhr. Allein in den Lagerhäusern und Häfen von Odessa lagern vier Millionen Tonnen Getreide.

Wird das Erntegut nicht bald ausgeliefert, werden große Teile davon verrotten und somit als Nahrungsmittel unbrauchbar sein. Zudem werden die Silos bald gebraucht, um die neuen Ernten einzulagern. Allerdings: Weil sich die Aussaat in der Ukraine in diesem Jahr verzögert hat, rechnen Agrarexperten mit einem Drittel weniger Ernte. Rund 30 Prozent der global benötigten Getreidemengen werden in Russland und in der Ukraine angebaut. Vor dem Krieg hatte die Ukraine rund 800.000 Tonnen Weizen an das UN-Welternährungsprogramm (WFP) geliefert.

Anfang Juni hatte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu den russischen Außenminister zu einem Treffen nach Ankara eingeladen, um über die Wiederaufnahme der Getreideexporte zu verhandeln. Russland wies die Schuld für die Blockade weit von sich. Stattdessen machte Außenminister Sergej Lawrow die Ukraine dafür verantwortlich.

Diese weigere sich, ihre Häfen zu entminen oder Durchfahrten von Frachtschiffen zu gewähren, so der russische Aussenminister. Er forderte die Ukraine auf, die Seeminen zu entfernen oder zumindest eine Durchfahrt an den Minen vorbei zu sichern.

Russland garantiere Sicherheit für Getreide exportierende Schiffe aus ukrainischen Häfen hinaus, ohne die Situation für Angriffe zu nutzen, versprach Lawrow. Dies könne auch in Zusammenarbeit mit den türkischen Kollegen geschehen. Auch Präsident Wladimir Putin hatte ukrainischen Getreideschiffen zuletzt freie Fahrt durchs Schwarze Meer zugesagt unter der Bedingung dass die Seeminen entfernt würden.

Zwar gab es bei dem Treffen noch keine konkreten Vereinbarungen, wie etwa zur Einrichtung eines Sicherheitskorridors. Lawrow und Cavusoglu sprachen sich aber in jedem Fall dafür aus. Über denselben Korridor könne dann auch Russland Lebensmittel und Dünger exportieren, so die Idee. Die Türkei würde den Transport des Getreides über das Schwarze Meer begleiten und schützen, versicherten türkische Behörden. Nun müssen nur noch die Regierungen in Moskau und Kiew zustimmen.

Doch die Ukrainer scheinen wenig Vertrauen in die russische Regierung zu haben. Aus Angst vor russischen Angriffen sei man nicht bereit, den wichtigen Hafen von Odessa von Minen zu befreien, erklären sie. Aus denselben Gründen hatte auch die Regionalverwaltung von Odessa kurz vor dem Treffen der Außenminister die Forderungen nach einer Minen-Räumung zurückgewiesen.

Russland werde nach einer Entfernung der Minen Odessa "angreifen" wollen, so die Befürchtung. Sobald die Zufahrt zum Hafen von Odessa von Minen geräumt sei, so ein ukrainischer Sprecher in einer Videobotschaft auf Telegram, werde die russische Flotte dort sein und Soldaten mit Fallschirmen landen.

Diskussion um Getreideausfuhren mit oder ohne Sanktionen

Russland werde den Weltmarkt erst wieder mit Getreide beliefern, wenn der Westen die Sanktionen aufhebe, ließ das Präsidialamt in Moskau kürzlich verlauten. Der türkische Minister bezeichnete die Forderung nach Lockerung der internationalen Sanktionen als "legitim".

Lebensmittel seien von Sanktionen ausgeschlossen, betonte Svenja Schulze und wies Putins Vorwürfe zurück, die westlichen Sanktionen würden eine globale Hungerkrise provozieren. Im Gegenteil: Indem russisches Militär die Häfen bombardiere, werde verhindert, dass Lebensmittel aus der Ukraine exportiert werden können. Das müsse aufhören, fordert die Bundesentwicklungsministerin.

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow wies darauf hin, dass die derzeitigen Sanktionen auch Schiffsversicherungen, Zahlungen sowie den Zugang zu europäischen Häfen verhindern. Allerdings gebe es "viel weniger Getreide als die Ukrainer behaupten", so Peskow. Der ukrainische Anteil an der weltweiten Produktion von Weizen und anderen Getreidearten mache weniger als ein Prozent aus, behauptet auch Außenminister Lawrow.

Glaubt man hingegen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, so lagern noch rund 25 Millionen Tonnen Getreide in ukrainischen Silos. Im Herbst könnte die Menge sogar auf 75 Millionen Tonnen steigen. Inzwischen stimmten sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und der ukrainische Präsident telefonisch darüber ab, dass alles getan werden müsse, um den Getreideexport aus der Ukraine auf dem Seeweg zu ermöglichen.

Einem Bericht der russischen Tageszeitung Iswestija zufolge hatte Moskau bereits vor dem Treffen in der Türkei ein Konzept zur Freigabe von Getreidelieferungen aus dem blockierten Hafen Odessa mit Kiew und Ankara abgestimmt. In den Hoheitsgewässern des Nachbarlandes übernehmen türkische Militärs die Minenräumung. Sie sollen die Schiffe bis in neutrale Gewässer begleiten, schrieb die Zeitung unter Berufung auf die russische Regierung. Anschließend sollen russische Kriegsschiffe die Getreidefrachter bis zum Bosporus eskortieren.

Von ukrainischer Seite wurden diese Berichte bislang nicht bestätigt. Gemeinsam mit Großbritannien und der Türkei sei die Idee erörtert worden, dass die Marine eines Drittlandes die Durchfahrt der ukrainischen Getreideexporte durch das von Russland beherrschte Schwarze Meer garantiere, erklärte Wolodymyr Selenskyj. Um die sichere Durchfahrt seiner Exporte zu garantieren, forderte der ukrainische Präsident "Anti-Schiffswaffen" ein.

Bleibt das Rätsel um das kürzlich verschwundene Getreide: Demnach soll Getreide aus dem besetzten Schwarzmeergebiet Cherson "gestohlen" worden sein. Glaubt man den Angaben des stellvertretenden ukrainischen Agrarministers Taras Vysotskyi, so wurden fast 500.000 Tonnen Getreide im Mai durch russische Truppen illegal aus Charkiw, Cherson, Saporischschja, Luhansk und Donezk exportiert.

Größere Mengen sollen über den russisch besetzten Hafen Mariupol verschifft worden sein. Der Export der letztjährigen Ernte nach Russland habe begonnen, bestätigte Kirill Stremoussow, Vizechef der von Russland eingesetzten Militärverwaltung von Cherson. Um Platz in den Speichern für die neue Ernte zu schaffen, sei ein Teil der Getreidevorräte nach Russland verkauft worden, lautet die russische Erklärung. Zu welchen Bedingungen die Bauern ihre Ernte verkaufen durften, ist bis heute ungeklärt.

Putin sagt russische Unterstützung bei Getreideausfuhren zu

Kurz vor dem Treffen der Außenminister in Ankara hatten Wladimir Putin und der senegalesische Präsident Macky Sall in Sotschi über eine Freigabe aller Lebensmittelprodukte und eine Aufhebung der russischen Ausfuhrblockade für Getreide gesprochen.

Russland gebe den Export von Weizen und Düngemitteln auf den afrikanischen Kontinent frei, teilte der Präsident der Afrikanischen Union nach dem Treffen mit Putin auf Twitter mit. Die Afrikanische Union (AU) hofft, durch die Aufhebung der Getreideblockade die verheerenden wirtschaftlichen und sozioökonomischen Auswirkungen der zunehmenden Lebensmittel- und Energiekrise abfangen zu können, erklärt Moussa Faki Mahamat, Vorsitzender der Kommission der AU, der ebenfalls am Treffen teilnahm.

Auch bei diesem Treffen wies der russische Präsident die Verantwortung für die Getreideknappheit auf dem Weltmarkt weit von sich. Die Krise habe schon vor dem Krieg in der Ukraine begonnen, erklärte er im russischen Fernsehen. Nicht Russland verhindere den Export von Getreide aus der Ukraine.

Vielmehr solle die Ukraine die Minen vor ihren Häfen an der Schwarzmeerküste entfernen. Die russische Armee werde nicht angreifen, so sein Versprechen. Mehr noch: Sogar die russisch kontrollierten Häfen in Mariupol und Berjansk am Asowschen Meer will er zur Verfügung stellen.

"Wir stehen am Rande einer globalen Nahrungsmittelkrise"

Afrikas Wirtschaft hat sich von den Folgen der Corona-Maßnahmen noch nicht erholt, schon drohen neue multifaktoriellen Krisen. David Beasley, Direktor des UN-Welternährungsprogramm (WFP), warnte auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos vor "der schwersten humanitären Krise seit dem Zweiten Weltkrieg." In einigen Regionen drohen dramatische Hungerkatastrophen.

Allein in Ostafrika haben rund 82 Millionen Menschen nicht genug zu essen. Das sind 32 Millionen mehr Kinder, Frauen und Männer als im Vorjahr. Besonders groß ist die Hungersnot in Somalia, am Horn von Afrika. Fast die Hälfte der Bevölkerung kann sich nicht ausreichend ernähren.

Berichten zufolge sind hier bereits zahllose Kinder und Erwachsene verhungert. Wegen fehlender Futtermittel verenden Millionen Nutztiere. In Kenia sind bereits Ende des vergangenen Jahres rund 1,4 Millionen Nutztiere verendet, weil Weideland und Wasserstellen weiträumig ausgetrocknet waren. Bauern, denen das Vieh wegstirbt, verlieren ihre Einnahmequellen. Sie sind dann selbst vom Hungertod bedroht.

In Somalia, Kenia und Äthiopien seien aktuell mehr als 23 Millionen Menschen von extremem Hunger betroffen. In diesen drei Ländern sterben die Menschen vor allem an Hunger und Unterernährung, weiß Gabriela Bucher, Geschäftsführerin von Oxfam International.

In Westafrika, der Sahelzone, Kamerun und der Zentralafrikanischen Republik hungern rund 43 Millionen Menschen. Auch die Einwohner in Dschibuti, Südsudan und Uganda sind vom Hunger betroffen. Im Tschad sind aktuell 5,5 Millionen Menschen – mehr als ein Drittel der Bevölkerung – auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Mehr als 2,1 Millionen Menschen könnten derzeit von "schwerer Ernährungsunsicherheit" betroffen sein. Weil zehntausende Familien ihre Heimat auf der Suche nach Wasser, Essen und Weideland verlassen müssen, wächs andernorts der Druck auf knappe Ressourcen.

Außer an Hungersnöten leiden die Menschen in bestimmten Regionen auch an kriegerischen Auseinandersetzungen, so wie im Norden Äthiopiens oder in Somalia. Dies verschlimmert ihre prekäre Situation zusätzlich. Hunger, Kriege und Klimawandel – all diese Faktoren gemeinsam werden in den Ländern des Globalen Südens verstärkt zu menschlichen Katastrophen führen.

Vor diesem Hintergrund werden in Afrika Getreidelieferungen aus Osteuropa dringender gebraucht denn je.