Wie würde ein russischer "Sieg" in der Ukraine aussehen?

Bild: Ivan Marc, Shutterstock.com

Diskussion konzentriert sich auf alarmistische Prognosen. Ein nüchterner Blick auf tatsächliche Absichten und Fähigkeiten Moskaus kommt zu kurz. Eine Analyse.

Der Ukraine-Politik der US-Regierung unter Präsident Joe Biden fehlt zwar eine kohärente Strategie, aber sie basiert zumindest auf einem expliziten Leitprinzip: Russland darf in der Ukraine nicht gewinnen. Diese Auffassung wird von den Verbündeten der USA jenseits des Atlantiks weitgehend geteilt. "Ich habe ein klares strategisches Ziel", sagte der französische Präsident Emmanuel Macron kürzlich in einem Interview. "Russland darf in der Ukraine nicht gewinnen."

Doch trotz dieser Einigkeit gibt es einen Schönheitsfehler: Es wurde nie ernsthaft genug darüber nachgedacht, wie ein russischer Sieg in der Ukraine aussehen würde. Stattdessen konzentrierte sich die Diskussion auf alarmistische Prognosen, die über die russischen Absichten und Fähigkeiten mehr verschleiern als ergründen.

"Wer kann sagen, dass Russland dort aufhören wird? Welche Sicherheit wird es für die anderen Nachbarländer geben, für Moldawien, Rumänien, Polen, Litauen und die anderen?", sagte Macron und wiederholte damit die unbegründete Behauptung, Russlands oberstes Ziel sei ein Angriff auf die Nato-Staaten.

Vollständiger Sieg über Ukraine kaum in Moskaus Interesse

Es stimmt zwar, dass ein Sieg Russlands in diesem Krieg den Interessen der USA weitgehend zuwiderläuft, aber ein genauerer Blick auf Moskaus mögliche Endspielszenarien in der Ukraine zeigt, dass ein vollständiger Sieg – selbst, wenn er möglich wäre – nicht in Russlands Interesse liegt und von der russischen Führung wahrscheinlich nicht mehr erwartet oder gewünscht wird.

Mark Episkopos ist Eurasia Research Fellow am Quincy Institute for Responsible Statecraft

Nach Ansicht westlicher Entscheidungsträger kann Moskau diesen Krieg einfach gewinnen, indem es die ukrainischen Streitkräfte (AFU) auf dem Schlachtfeld besiegt. Auf den ersten Blick scheint dies eine vernünftige Interpretation der Kriegsziele eines kriegsführenden Staates zu sein. Doch bei näherer Betrachtung fällt diese vereinfachte Darstellung des Konflikts schnell in sich zusammen.

Das Szenario einer russischen Besatzung

Was wäre, wenn die Linien der AFU zusammenbrächen – eine Aussicht, die zwar bisher nicht unmittelbar bevorsteht, aber von Tag zu Tag unwahrscheinlicher wird – und die russischen Streitkräfte die Ukraine überrennen könnten?

Selbst wenn die ukrainischen Streitkräfte an der Front endgültig aufgerieben werden, wird die Belagerung ukrainischer Hochburgen wie Charkiw und Saporischschja – von Kiew und Odessa ganz zu schweigen – eine enorme Belastung darstellen. Die monatelangen Kämpfe um die weit weniger bedeutenden Städte Mariupol und Bachmut geben einen kleinen, aber erschreckenden Vorgeschmack auf die Folgen einer solchen Belagerung.

Komplette Besatzung wäre nicht leistbar

Die Besetzung der gesamten Ukraine wäre für Russland schon kurzfristig unerschwinglich, ganz zu schweigen von einem längeren oder unbestimmten Zeitraum. Der Westen würde wahrscheinlich sein Bestes tun, um diese Kosten in die Höhe zu treiben, indem er Partisanenaktivitäten in der gesamten Ukraine, vor allem aber in der Westhälfte des Landes, finanziert und koordiniert.

Schließlich gibt es einen historischen Präzedenzfall für derartige Aktivitäten, nämlich die Ukrainische Aufständische Armee, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu fünf Jahre lang Widerstand gegen die sowjetischen Behörden leistete.

Die Gefahr von "Putins Afhanistan"

Vor der russischen Invasion drängten westliche Kommentatoren darauf, diesen Konflikt in "Putins Afghanistan" zu verwandeln, wobei die ukrainischen Partisanen die Rolle der Mudschaheddin-Kämpfer der 1980er-Jahre übernehmen sollten.

Diese Vorschläge wurden verworfen, da die ukrainische Regierung in den verhängnisvollen Wochen nach der Invasion nicht zusammenbrach.

Unverändert ist der Umstand, dass jeder Versuch Russlands, die gesamte Ukraine unter seine Kontrolle zu bringen, wahrscheinlich eine langwierige Aufstandsbekämpfung mit enormen Kosten nach sich ziehen würde.

Der Zerfall der Ukraine erhöht auch das Risiko einer direkten Konfrontation zwischen Russland und dem Westen. Die Errichtung einer De-facto-Grenze zwischen Ostpolen und der von Russland besetzten Westukraine würde einen gefährlichen Krisenherd schaffen, der sich in Ermangelung sinnvoller Kanäle für eine Deeskalation zu einem heißen Krieg an der Ostflanke der Nato ausweiten könnte.

Ein solcher Krieg wäre auch nicht unbedingt vom Westen unbeabsichtigt. Ein völliger Zusammenbruch der Ukraine würde wahrscheinlich Forderungen der baltischen Staaten und zumindest einiger europäischer Großmächte nach einer direkten Intervention des Westens vor Ort auslösen.

Dies geschähe in Form einer Nato-Expeditionstruppe oder einer Koalition der Willigen aus einzelnen Nato-Mitgliedern.

Macron hat wiederholt offen erklärt, dass der Westen eine solche Intervention nicht ausschließen sollte. Obwohl sein Vorschlag von den USA und Deutschland klar zurückgewiesen wurde, ist zu erwarten, dass der politische Druck in Europa und den USA, "etwas zu tun", um Russland zu stoppen, zunehmen wird, je näher die Niederlage Kiews rückt.

Der Kreml ist sich sehr wohl bewusst, dass er seine Kriegsziele nicht einseitig erreichen kann, egal, wie gut er auf dem Schlachtfeld ist.

Tatsächlich gehen seine Ziele weit über die Ukraine hinaus, wenn auch nicht ganz so, wie Macron und die Biden-Regierung glauben.

Moskau geht es mehr um Zugeständnisse

Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Moskau einen Eroberungskrieg gegen Polen, die baltischen Staaten oder andere Nato-Staaten führen will, aber es ist sicherlich bestrebt, den USA und ihren Verbündeten eine Reihe strategischer Zugeständnisse abzuringen, darunter ein Verbot der Nato-Osterweiterung und eine Begrenzung der Truppenstationierung an der Ostflanke der Nato.

Der Krieg, den Russland in der Ukraine führt, ist somit ein Stellvertreter für die umfassendere Zwangsstrategie des Kremls gegen den Westen, auch wenn keineswegs klar ist, dass die Eroberung der Ukraine Moskau den gewünschten Zugeständnissen näherbringen wird.

Ein Zusammenbruch der AFU würde in den westlichen Hauptstädten sicherlich Panik auslösen. Es ist jedoch schwer vorstellbar, wie diese Panik in die konkrete Bereitschaft der Biden-Regierung und anderer westlicher Politiker umgesetzt werden könnte, die Art von umfassenden Sicherheitsabkommen abzuschließen, die Moskau anstrebt.

Zusammenbruch der Ukraine könnte Eskalation provozieren

Wenn man bedenkt, wie sehr die derzeitigen westlichen Regierungen politisch in die Kriegshandlungen in der Ukraine verstrickt sind, ist es sogar möglich, dass ein Zusammenbruch der Ukraine die gegenteilige Reaktion hervorrufen und die Bereitschaft westlicher Politiker zu substanziellen Gesprächen mit Moskau weiter verringern würde.

Einfach ausgedrückt: Russland hat wenig zu gewinnen und viel zu verlieren, wenn es in der Ukraine "gewinnt", wenn damit die Besetzung des gesamten Landes gemeint ist.

Stattdessen liegt der Anreiz für Russland darin, seine wachsenden Vorteile als Druckmittel in Verhandlungen mit dem Westen einzusetzen. Vor diesem Hintergrund hat der Kreml bereits angedeutet, entmilitarisierte Pufferzonen in der Ukraine einzurichten, die nicht unter russischer Kontrolle stehen.

Unabhängig davon, was in den kommenden Wochen und Monaten auf dem Schlachtfeld geschieht, hat Moskau etwas begonnen, das es nicht einseitig beenden kann.

Washington und seine Verbündeten sollten jetzt ihren Einfluss nutzen, um den Krieg unter den bestmöglichen Bedingungen für den Westen und die Ukraine zu beenden.

Mark Episkopos ist Eurasia Research Fellow am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Außerdem ist er außerordentlicher Professor für Geschichte an der Marymount University. Episkopos hat an der American University in Geschichte promoviert und an der Boston University einen Master-Abschluss in internationalen Angelegenheiten erworben.

Der vorliegende Artikel erschien zuerst auf Englisch bei Responsible Statecraft in den USA.