Der Präsident und die verachteten "Kötten"

Trauerfeierlichkeiten für Konrad Adenauer; Empfang der Staats- und Regierungschefs in der Godesberger Redoute von rechts (1. Reihe): US-Präsident Lyndon B. Johnson, Bundespräsident Heinrich Lübke. Bild: Bundesarchiv, B 145 Bild-F024624-0004 / Gräfingholt, Detlef / CC BY-SA 3.0 DE

Die Geheimnisse des Heinrich Lübke,Teil 3: Wie eng war das Staatsoberhaupt mit den vagierenden Korbflechtern bzw. "Jenischen" des Sauerlandes verwandt?

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Als die Bundesversammlung am 1. Juli 1959 Heinrich Lübke (1884-1972) aus Enkhausen zum Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt hatte, runzelte ein Bauernsohn im Raum der heutigen Großgemeinde Eslohe die Stirne und meinte zu einem jüngeren Gegenüber (Jg. 1938): "Wenn einer Lübke heißt, dann weißte alles!" Heute erinnert man sich nur noch an den unbändigen Stolz der Sauerländer. Einer aus ihrer Mitte war, wiewohl er selbst es etwas anders sah, würdig befunden worden für das "höchste Staatsamt". Mit Sicherheit gab es aber anfänglich in der Landschaft nicht nur bei dem besagten Bauernsohn ein Stirnrunzeln.

Den Namen "Lübke" verband man damals an vielen Orten nämlich noch immer mit einer Familiengruppe, aus der zahlreiche "jenische" Sauerländer hervorgegangen waren, insbesondere Korbmacher und Händler (Hausierer). Nach Ansicht mancher Mitglieder des streng katholischen Selbstlobkollektivs waren Träger des Namens Lübke mit vagierenden Vorfahren nicht unbedingt die vorbildlichsten Sauerländer (auch wenn man im Einzelfall genialen Musikern aus ihrer Mitte beim Tanzen großen Beifall zollte). Heinrich Lübkes große Sorge, seine Familie könne mit Korbflechtern in Verbindung gebracht werden, kommt in Küpers "Lebensbild" 1959 ausdrücklich zur Sprache (siehe Teil 2).

Die sauerländischen "Kötten" oder: "Etwas Besseres als den Tod finden wir überall!"

Zu den umherziehenden Armen des Sauerlandes, den sogenannten "Kötten", liegt mit einer Abteilung aus meinem Buch Fang dir ein Lied an (2013) erstmals eine umfangreichere Darstellung vor. Im Zuge einer verstärkten Armutsentwicklung seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert fielen zahlreiche Menschen aus den Untertanenverbänden heraus und wurden zu Unbehausten. Das Überlebensmotto derjenigen, die "herrenlos" auf der Straße landeten, findet man Ulrich F. Opfermann zufolge im Märchen von den Bremer Stadtmusikanten:

Etwas Besseres als den Tod finden wir überall!

Armut und umherreisende Lebensform ohne eigenes Dach über dem Kopf wurden z.T. über viele Familiengenerationen - sogar bis ins 20. Jahrhundert hinein - weitergegeben. Schuld daran waren die äußeren Lebensbedingungen und Stigmatisierung, nicht die Familien. Bekämpft wurden aber durch die Obrigkeiten nicht Armut, Armutsursachen und Obdachlosigkeit, sondern die umherziehenden Armen. Davon zeugen auch zahllose Verordnungen für das Herzogtum Westfalen.

Ab Ende des 17. Jahrhunderts tauchen "Vaganten" im katholischen Sauerland wie in anderen Landschaften vermehrt in Kirchenbüchern auf. Zusätze in den Tauf-, Heirats- und Sterberegistern geben Auskunft: "vagus", "vaga", "vagi", "vagorum", "vagabundi mendicantes" (bettelnde Vagabunden), fremde Arme (pauperes) oder "peregrini" (Fremdlinge bzw. "Pilger"). Die Umherziehenden können von weit her kommen, aber auch ehemalige Dorfarme sein, deren sesshafte Verwandtschaft in der nahen oder weiteren Umgebung angesiedelt bleibt.

Die an den Rand Gedrängten versuchen, als Topfhändler, Kesselflicker, Korbmacher, Scherenschleifer, Mausefallenhersteller, Lumpenhändler oder Unterhaltungskünstler ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie finden zu einem gemeinsamen Gruppenbewusstsein und verbinden sich - über Territorialgrenzen hinweg - innerhalb ihres sozialen Gefüges durch Eheschließungen mit anderen Familienverbänden. Zur Vernetzung gehört auch die gegenseitige Übernahme von Taufpatenschaften, die deshalb bei Kirchenbuch-Nachforschungen zu den "Vaganten" (bzw. "Jenischen") unbedingt Beachtung verdienen.

Eher zufällige Arbeitsmöglichkeiten als Tagelöhner oder Hüter von Schafen, Schweinen und Kühen gingen wohl auch bei manchen Vagierenden mit einem zumindest vorübergehenden Behaustsein einher. Die vorherrschenden Erwerbszweige eröffneten ihnen indessen schon auf Grund der schnell erschöpften Nachfrage keine Aussicht, lange an einem Ort zu verbleiben. Selbst nach Einführung der Niederlassungsfreiheit im 19. Jahrhundert wurden den Betreibern unerwünschter Gewerbe viele Knüppel zwischen die Beine geworfen, wenn sie sich fest ansiedeln wollten.

Wie haben die nicht ortsfesten Familien über Generationen hinweg ihr Geschick als Hungerleider gemeistert und trotz schwierigster Bedingungen überleben können? Wie kamen sie durch den Winter? Wie konnten sie ihre Kinder am Waldrand gebären und auf der Straße großziehen? Sprachen sie auch im Sauerland eine eigene ("jenische") Sondersprache wie "Umherreisende" in anderen Landschaften? Welche Spottverse kursierten über sie? Wie konnten sich die Familiengruppen behaupten, als sie sich gegen Widerstand an mehreren Orten des Sauerlandes fest ansiedelten und wieder zu "Eingesessenen" wurden? All diese Fragen sind durch die Regionalforschung bislang kaum thematisiert worden, denn es geht in ihnen um sehr alte Tabus.

Illustration der Düsseldorfer Künstlerin Inka Conrads zum Thema "Kötten-Lübken" (Ausschnitt). - Archiv P. Bürger

Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass wir es bei den Vagierenden mit bewundernswerten Lebenskünstlern zu tun haben. Die Eroberung ökonomischer Nischen durch nicht ortsfeste Arme, die sich in sozialer Hinsicht auf neue Weise organisieren, kann als Selbsthilfe nicht hoch genug gewürdigt werden. Sie vollzieht sich mit großen Ähnlichkeiten in vielen Landschaften (und Ländern). Die fahrenden Gewerbe und Kleinhandwerke werden allerdings verachtet, gemaßregelt und oftmals nur als Vorwand für Bettelei oder Diebstahl betrachtet.

In Wirklichkeit nehmen die ambulanten Kleinstgewerbetreibenden für die Gemeinschaft wichtige wirtschaftliche Funktionen wahr: Sie bieten überaus nützliche Dienstleistungen an (z.B. Reparatur, Wartung), versorgen die ländliche Bevölkerung mit notwendigen Gebrauchsgütern (Körbe, Töpfe etc.), gewährleisten die Wiederverwertung von Altstoffen (z.B. Knochen, Lumpen) und tragen bisweilen mit Unterhaltungskünsten auch zum seelischen Wohlergehen ihrer Mitmenschen bei.

Der besondere Lebensstil der "Kötten" brachte es mit sich, dass sie es mit den kirchlichen Formalitäten der Eheschließung nicht immer so ganz genau hielten. Die Kinder aber ließ man - "gut katholisch" - alsbald nach der Geburt vom Priester des jeweiligen Aufenthaltsortes taufen.

Die "Korbflechter-Lübken"

Die beiden bekanntesten Familienverbände von Vagierenden im Sauerland hießen "Lübke" und "Lütt[e]cke". Es handelt sich um "alteingesessene Familien", deren Namen seit über einem halben Jahrtausend in den Pfarrregistern auftauchen. Insgesamt findet man in Netzwerken der Umherziehenden, die einen Bezug zum Sauerland aufweisen, aber mindestens 100 Familiennamen. Schon so mancher Familienforscher hat mit Verwunderung entdeckt, dass ein "Vagabundenpaar" zu seinen Vorfahren zählt. Historiker schätzen, dass hierzulande zeitweilig 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung umherreisende Arme ohne Heim waren!

Spätestens ab Ende des 18. Jahrhunderts tauchen in sauerländischen Kirchenbüchern Träger des Familiennamens "Lübke" immer wieder auf in Verbindung mit "Vagantenstatus" sowie typisch jenischen Berufen und Verwandtschaftskonstellationen. Der Holzener Lehrer und Heimatforscher Friedrich Geuecke (1897-1981) schreibt über die umherziehenden Lübke-Namensträger früherer Zeiten, dass sie:

... alle Bauernenkel und -urenkel sind, deren Reichtum ihre Fruchtbarkeit und deren Schicksal ihre Armut war, wobei eins mit dem anderen zusammenhing. Beides zwang sie in der vorindustriellen Zeit zu den einfachsten Gewerben, die sie im Umherziehen ausübten, und wenn sie mit ihrem Verdienst die kleinen hungrigen Mäuler nicht stopfen konnten, auch zu gelegentlichen Diebereien, die sie dann mehr und mehr in Verruf brachten; zu Unrecht meine ich; denn gerade durch ihren erfinderischen Sinn, "Marktlücken" zu entdecken, bewiesen sie doch ihre Arbeitswilligkeit.

Und erwiesen sie nicht in der alten Zeit so vielen Familien in Stadt und Land als Scherenschleifer, Schirm- und Kesselflicker, Mausefallenhändler und durch andere Künste kleine, aber gern in Anspruch genommene Dienste? Und viele wurden zu Beginn des Industriezeitalters die ersten Fabrikarbeiter. - Unserm alten Dorf Holzen vorm Lüer aber haftet noch bis in die neueste Zeit der nicht gern gehörte Nachnamen "Köttenholzen" an, nicht nur von den Lübkes, sondern mehr noch von vielen ihrer Leidensgenossen, denen manche Tagelöhnerfamilie gegen eine geringe Miete eine Bleibe gewährte.

Zu den wenigen bekannten Selbstzeugnissen von Jenischen aus der Region gehören Briefe des Jahres 1877, die die Familie eines katholischen Korbmachers Franz Lübke in Beckum bei Balve betreffen.1 Die erhaltenen Briefdokumente zeugen von herzlichster Verbundenheit und gegenseitiger Sorge in der armen Korbflechter-Familie.

Diese ist mindestens so fromm wie das übrige katholische Milieu des Sauerlandes. Man träumt allerdings nicht, wie die aufsteigenden Tagelöhner, vom Feierabend auf einem eigenen Biedermeiersofa, sondern zitiert Gedichtzeilen vom Strudel des Lebens und von der Liebe bis ins kühle Grab hinein.

Nicht wenige Mitglieder des großen Familienverbandes der "Korbmacher-Lübken" wurden schon im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu ortsfesten Bewohnern, heirateten vielfach aber weiterhin Partner mit ebenfalls "jenischer Familiengeschichte". Die ambulante Handelstradition wurde von einigen Namensträgern noch lange beibehalten und auch weiterentwickelt. Andere Nachkommen traten schon bald als Eisenbahnarbeiter, anerkannte Handwerker (z.B. Klempnermeister, Maurer), Landwirte oder Kraftfahrer in Erscheinung.

Enkel der ehedem umherziehenden Zinngießer und Blechschläger verlegten als Pioniere die ersten Wasserleitungen, vertrieben einen modernen Milchentrahmungsapparat oder saßen - im Einzelfall bezeugt - als gewählte Vertreter der Versicherten im Ausschuss der Ortskrankenkasse. Isolierte Fälle von Diskriminierung aufgrund des stigmatisierten "jenischen Familiennamens" sind mir allerdings noch für die Zeit nach 1945 erzählt worden!

Heute, weit mehr als 200 Jahre nach den frühesten bekannten Kirchenbucheinträgen, weiß wohl kaum noch ein jüngerer Nachfahre der "Korbflechter-Lübken", was Vagierende (umherziehende Arme) sind. Die Kindeskinder und deren Nachkommen engagieren sich in allen Sparten des beruflichen und gesellschaftlichen Lebens. Ohne eingehende Familienforschungen in Pfarrarchiven (bzw. heute über Datenbanken der regionalen Genealogen) können sie wohl nur selten in Erfahrung bringen, dass Vorfahren sich einmal als "Kötten" durchs Leben schlagen mussten.

Der Großvater als ältester bekanntester Vorfahre des Bundespräsidenten?

Nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten ließ Heinrich Lübke im Juli 1959 mitteilen, er besitze keine "lückenlosen Familienunterlagen bis in das 16. Jahrhundert". Noch sehr viel bescheidener nimmt sich das veröffentlichte "Familienblatt" des Staatsoberhauptes aus: "Ältester bekannter Vorfahr im Mannesstamm: Franz Anton Lübke, geb. Enkhausen 20.3.1830, gest. 11.3.1895."

Nichtsdestotrotz, der Präsident aus den kleinen Leuten des Sauerlandes, vormals von adeligen Großagrariern regelrecht als Feind betrachtet, kam als Träger des Danenbrog-Ordens zur Ehre eines reichhaltig verschnörkelten Wappens:

In golden-grün gespaltenem Schilde ein rechts rot-, links goldenbewehrter, schwarz-silbern gespaltener Adler, der im rechten Fang ein goldengeschnittenes rotes Buch, im linken einen goldenen Schulzenstab hält.

Das Wappen hat Lübke im Dezember 1960 neu angenommen - "für sich und die übrigen Nachkommen im Mannesstamm seines oben genannten Stammvaters Franz Anton Lübke". Dieser älteste bekannte Stammvater Franz Anton, das ist der Opa von Heinrich Lübke (im Kirchenbuch noch als Tagelöhner geführt). Ist das als Ergebnis der Ahnenforschung zu einem Staatsoberhaupt, dem man z.B. im Februar 1933 eine Herkunft "aus altem Bauerngeschlecht" bescheinigt hat, nicht etwas dürftig?

Inzwischen haben Genealogen freilich längst eine lückenlose Verbindung des Präsidenten-Stammbaumes bis hin zum angenommenen Stammhof der "Beckum-Balve-Langscheider Linie" der Lübken hergestellt. Doch es bleiben viele Fragen offen. Großvater Franz Anton (1830-1895), als Tagelöhner postum erster Träger des "Präsidentenwappens", soll bei Amecke auch als Hofgründer in Erscheinung getreten sein. Ob dies über die Ansiedlungsversuche sehr vieler kleiner Leute hinausging, geht aus den spärlichen Angaben in Forschungsbänden von Dr. Norbert Lübke nicht hervor.

Friedrich Wilhelm Lübke (1855-1902), Vater des nachmaligen Staatsoberhauptes, wird jedenfalls erst durch Einheirat in Enkhausen zum Kleinlandwirt. Ohne Haus und einige Morgen Land wäre er mit seinen fünf lebenden Kindern womöglich ein ganz armer Schlucker geblieben wie nicht wenige Schuster seiner Zeit. Zwei seiner drei Brüder waren aus dem "schönen Sauerland" in große Städte abgewandert, um sich ernähren zu können.

Über die Persönlichkeit dieses Vaters, der stirbt, als der spätere Bundespräsident acht Jahre alt ist, wissen wir rein gar nichts. Nicht einmal über die Umstände seines recht frühen Todes informieren uns die Biographen. Der älteste und offenbar sehr tüchtige Sohn Franz Anton (1881-1916), der den Schusterbetrieb im Elternhaus mit modernem Ladenlokal weiterführt, verliert sein Leben im Krieg. Danach hat die "Kleinbauernfamilie" - jetzt ohne Handwerksmeister - noch immer genug Geld für das Ingenieurstudium des Zweitjüngsten und die Lehrerausbildung des Jüngsten. Die Mutter muss wahrlich eine Zauberin gewesen sein.

Urgroßvater Wilhelm Lübke (1794-1840), von dessen bloßer Existenz in der Familie des Präsidenten merkwürdigerweise keiner (!) mehr Kunde hatte, ist ebenfalls Tagelöhner gewesen. Ein Telefonat beim Enkhausener Ortspfarrer hätte dem Bundespräsidialamt beim Auffinden dieses früheren "Stammvaters" schnell weiterhelfen können. Daran scheint aber kein Interesse bestanden zu haben.

"Kinder, holt die Wäsche ʼrein, die Lübken kommen!"

Sehr umfangreiche genealogische Erkenntnisse verdanken wir dem Arzt Dr. Norbert Lübke, der wie der Bundespräsident zur "Beckum-Balve-Langscheider Familienlinie" gehörte. Zwischen 1975 und 1979 erschienen sechs Manuskriptbände mit Ergebnissen seiner Familienforschungen, die der Autor als öffentliche Publikationen u.a. auch der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund zur Verfügung gestellt hat.

Bei Norbert Lübke heißen die "Korbflechter-Lübken" durchweg "Kötten-Lübken". In seinen ersten Ausführungen herrscht noch Unsicherheit, ob diese Tonwarenhändler, Lumpensammler, Hausierhändler oder Korbmacher mit den "Beckum-Balve-Langscheider Lübken" verwandt sind. Der Familienforscher schildert aus eigener Erfahrung, dass es so etwas wie einen "Köttenkomplex" gibt und eine äußerst reservierte Haltung gegenüber den "Verwandten im Wagen" vorherrscht:

Noch in der Mitte des vorigen 19. Jahrhunderts war es im ganzen Sauerland ein geflügeltes Wort: "Kinder, holt die Wäsche ʼrein, die Lübken kommen!" In manchen Gesprächen, besonders mit älteren Leuten, trat ein peinliches Schweigen auf, wenn ich sie auf die Existenz der früher bekannten Kötten-Lübkes anredete.

Der 1894 geborene Langscheider Fritz Lübke erzählt jedoch für die ab 1975 angelegte Familienchronik offen aus seiner Jugendzeit:

Kötten-Franz hatte einen kleinen Leiterwagen, den zog er hinter sich; auf ihm waren die gesammelten Lumpen, und hinter ihm lief sein kleines struppiges Hündchen - und seine Frau. Besonders beschämend war für uns, dass er auf einem Wagen ein Schild angeheftet hatte: "Franz Lübke, Lumpen". In jedem Haus fragte Franz nach Lumpen, er bezahlte dafür ein paar Pfennige. Wir haben nichts mit ihm zu tun haben wollen.

Zumindest einige namensgleiche "Kötten" kamen aus der nahen Nachbarschaft der etablierten Lübken (Langscheid, Oelinghauser Heide). Da konnten die Leute auf falsche Ideen kommen. Ein gewisser Franz Lübke scheint nun also im frühen 20. Jahrhundert ein besonderes Ärgernis gegeben zu haben. Er präsentierte sich als Unternehmer mit einem eigenen Firmenschild, damit jeder seinen Namen auch lesen konnte. Der Mann hatte offenbar Humor - und Selbstbewusstsein. Warum sollte man für das Recycling von Altkleidern nicht mit seinem Namen geradestehen?

Norbert Lübke beschreibt 1978 deutlich, welche Schwierigkeiten sich weiteren Erkundigungen auch auf der so lange stigmatisierten Gegenseite in den Weg stellten:

Von heute Lebenden ist nichts mehr zu erfahren, auch wenn sie Nachkommen der Kötten sind. Entweder wissen sie nichts mehr [...] oder sie wollen nicht darüber sprechen.

Zum Beleg wird ein Pferdehändler mit Namen Lübke angeführt, der - auf das Thema "Kötten" angesprochen - noch in den 1970er Jahren wütend einen Hof verlassen hat.

Der Gesamtzusammenhang aller sauerländischen Lübken steht für Dr. Norbert Lübke bei Abschluss seiner Forschungsreihe aber nicht mehr in Frage. Vieles bleibt wegen der lückenhaften (oder oftmals auf zahlreiche Orte der größeren Region verteilten) Kirchbucheinträge und des so lange gepflegten Tabus weiterhin im Dunkeln. Der Familienforscher vermutet, dass sich die "nicht sesshafte Verwandtschaft" in mehreren Schüben überwiegend in der Zeit nach dem 30-jährigen Krieg abgezweigt hat.

Das Fazit nach jahrelangen Forschungen ist gut begründbar. Die Abwehr einer möglichen Verwandtschaft mit "Kötten" durch viele Lübke-Namensträger lässt sich in ihrer Vehemenz und Dauer besser verstehen, wenn es aus früherer Zeit wirklich eine Verbindung mit den "ungeliebten Verwandten" gibt. Für die nachgewiesene Präsenz von "Korbmacher-Lübken" in den Gebieten von Balve und der heutigen Stadt Sundern ("Langscheider Zweig") könnte das Phänomen Zurück zu den Wurzeln eine gute Erklärung sein.

Bleakhännes. Ein Vertreter des Korbmacher- und Händlerzweiges des sauerländischen Familienverbandes Lübke (Fotoarchiv Museum Eslohe)

Beide Familiengruppen sind römisch-katholisch und im ehedem kurkölnischen Sauerland verankert, wo sie zahlenmäßig mit großem Abstand die "bedeutendsten Lübken" sind. Nicht eine verwandtschaftliche Verbindung, sondern eine strikte Trennung beider Zweige wäre besonders erklärungsbedürftig.

Neue sozialgeschichtliche Forschungsergebnisse weichen zudem Linien auf, die man ehemals für Mauern gehalten hat: Jenische wie die "Korbmacher-Lübken" kommen nicht von einem anderen Stern, sondern aus der nahen Mehrheitsbevölkerung und nicht selten aus "alteingesessenen Familien".

In der Geschichte ist mit zahlreichen sozialen oder auch verwandtschaftlichen Berührungspunkten zwischen "Kötten" und anderen "Kleinen" (Tagelöhnern, prekären Handwerkern, heimindustriell tätigen Beiliegern, waldbewohnenden Köhlern, Schäfern etc.) zu rechnen. Eine notgedrungene Mobilität findet man hier wie dort. Weil die Abgrenzung zur "Vaganten-Szene" oftmals eine ganze fragile Sache war, betonte man ganz unten in der Gesellschaft mitunter besonders nachdrücklich, nicht zu den "Kötten" (Parias) zu gehören.

Wie eng waren die Verbindungen zum Bundespräsidenten?

Ein genauerer Nachweis der Verbindungslinien wäre in unserem Zusammenhang erheblich leichter, wenn die von Dr. Norbert Lübke handschriftlich zusammengetragene Datenfülle bereits in einem modernen genealogischen Computerprogramm erfasst wäre. Ich selbst vertrete die These, dass insbesondere auch der nähere Familienzweig des sauerländischen Bundespräsidenten in einer durchaus engen Verbindung mit "Korbmacher-Lübken" gestanden hat. Meine Recherchen hierzu hat der Sunderner Historiker Werner Neuhaus mit einigen Mitteilungen aus dem Pfarrarchiv Enkhausen unterstützt:

  • Bei der Taufe einer kleinen "Vagabunda" im Jahr 1794 taucht z.B. der Familiennamen "Benzeler" auf. "Benzeler" als Nachname von Mutter und Taufpatin begegnet uns hernach im Jahr 1824 zweifelsfrei auch in Verbindung mit einer Familie des Langscheider Zweiges der von Beckum abgeleiteten Lübken, welcher später den Präsidenten hervorgebracht hat.
  • Zu erinnern ist an die äußerst sparsame öffentliche Darbietung des Bundespräsidenten-Stammbaumes (s.o.). Der 1960 förmlich unterschlagene Urgroßvater Wilhelm Lübke (geb. 30.8.1794) verdient besondere Aufmerksamkeit. Seine Taufpatin hieß Anna Catharina Christiani. Eine andere(!) Anna Catharina Christiani tritt dann im gleichen Kirchenbuch 1849 als Braut eines "Korbmacher-Lübke" in Erscheinung.
  • Bezogen auf die Übernahme von Taufpatenschaften scheint eine Verbindung zwischen beiden Namensträgergruppen zumindest im Einzelfall nachweisbar zu sein: Die unverheiratete Anna Maria Lübke aus Wettmarsen, einem Dorf auf der von vielen "Kötten" besiedelten Oelinghauser Heide, bringt 1838 einen Sohn Wilhelm Lübke zur Welt. Die eingetragenen Paten Wilhelm Lübke (Hövel) und Anna Maria Lübke (Langscheid) werden bei Dr. Norbert Lübke jener Linie zugezählt, zu der auch Präsident Heinrich Lübke gehörte (Mutter und Patin sind hier übrigens namensgleich).

Die ganz genauen Zusammenhänge sind im letzten Fall nicht einfach zu klären, da es zeitgleich z.B. mindestens fünf verschiedene Anna Maria Lübkes in den Kirchenbuchregistern gibt. Die angeführten Beispiele können einstweilen auch nur als heiße Indizien gelten und bieten für unsere Suche ("missing link") noch kein wirklich zufriedenstellendes Ergebnis.

Mit weiterführenden Erkenntnissen ist aufgrund der imponierenden (freilich auch sehr ambivalenten) Möglichkeiten moderner Computer-Genealogie zu rechnen. Bereits jetzt lässt sich mit großer Gewissheit sagen: Bundespräsident Heinrich Lübke hieß kaum nur zufällig so wie seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch viele umherziehende Korbflechter, Blechschläger oder Hausierer des Sauerlandes. Es gab einen familiären Zusammenhang mit den "Jenischen" der Landschaft.

Der politische Einsatz von Heinrich Lübke zugunsten einer materiellen wie kulturellen Aufwärtsentwicklung der kleinen Leute und Armen rückt unter diesem Gesichtspunkt in ein neues Licht. Anders betrachtet man nunmehr aber auch die erwiesene Sorge des zweiten Bundespräsidenten, die Biographen könnten in Archiven vor Ort den vergangenen Spuren seiner Familie allzu genau nachgehen.

Nachtrag mit Blick auf den Antiziganismus der Gegenwart

Nur im ehemals kurkölnischen Sauerland hießen die vagierenden Armen, die aus der Mehrheitsbevölkerung stammten, "Kötten" (in einigen benachbarten Landschaften wurden sie z.B. "Mäckeser" genannt). Dieser Name ist vermutlich schon immer eine Fremdbezeichnung gewesen und gehört so ziemlich mit zum Schlimmsten, was man einem Dorfgenossen an den Kopf werfen kann. Unter Vorbehalt ist im vorliegenden Beitrag außerdem von "Jenischen" die Rede, was eigentlich nur bei Nachweis eines entsprechenden jenischen Selbstbewusstseins und eines jenischen Sondersprachgutes voll gerechtfertigt wäre.

Spätestens im frühen 20. Jahrhundert kam es - vermutlich unter dem Einfluss kruder "Mischungs-Theorien" - zu einem aberwitzigen Bedeutungswandel. Nun benutzte man das Wort "Kötten" sehr oft auch als Oberbegriff für sogenannte "Zigeuner". Indessen gehörten die "Kötten" wie andere Jenische ganz sicher nicht zu den als "Zigeuner" diskriminierten Sinti oder Roma. Sie waren auch keine sogenannten "Zigeunermischlinge". Gleichwohl gerieten die "Kötten" aus dem Sauerland nach 1933 ins Visier faschistischer "Erbhygieniker". Da eine Münsterische "Medizinerin" sie im Rahmen der amtlichen Rassenideologie nicht einzuordnen wusste, forderte sie neue Repressionsinstrumente auch gegen "arische Asoziale".

Zwischen Jenischen (z.B. "Kötten") und Manischen (Sinti oder Roma) hatte sehr lange eine regelrechte Heiratsschranke bestanden, bevor es ab dem 19. Jahrhundert zu - nicht sehr zahlreichen - gruppenverbindenden Eheschließungen unter den Marginalisierten kam. Nur in diesen Fällen konnte später die amtliche Rassenverfolgung der Faschisten auch gegen Nachkommen von "Kötten" gerichtet werden.

Der nationalsozialistische Staat begann nach einem entsprechenden Runderlass Heinrich Himmlers vom 8.12.1938, die Verfolgung von Sinti und Roma weiter zu radikalisieren ("Bekämpfung der Zigeunerplage aus dem Wesen dieser Rasse"). Die endgültige Entscheidung zur Vernichtung der "Zigeuner" im Rahmen der massenmörderischen Rassenverfolgung besiegelte eine neue Verfügung Himmlers vom 16.12.1942 mit Ausführungsbestimmungen vom 29.1.1943.

Jetzt wurden auch einige Lübke-Namensträger, die ein Eltern- oder Großelternteil aus der Gruppe der Sinti hatten, zu Opfern der Verfolgung. Sie galten als "Zigeuner-Mischlinge". Zu den im März 1943 in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportierten mutmaßlichen "Mischlingen" gehörten z.B. die katholischen Mädchen Elfriede Lübke (geb. 1934) und deren Schwester Marie Lübke (geb. 1936) aus meiner sauerländischen Heimatgemeinde. Die kleine Elfriede Lübke fand laut Eintrag im "Hauptbuch des Zigeunerlagers Ausschwitz-Birkenau" schon am 22. Februar 1944 den Tod in der Mordhölle. Irgendein Zeichen zum Gedenken an die beiden Mädchen gibt es nicht. Wir wissen allerdings erst seit letztem Jahr von ihrem Schicksal.

Mit erbbiologistischen Attacken gegen Arme kann man heute noch immer als Bestsellerautor viel Geld verdienen. Bezogen auf den jahrhundertealten Antiziganismus ist es trotz der systematischen Massenmorde an Roma und Sinti nach 1945 zu keinem durchgreifenden Lernprozess in unserer Gesellschaft gekommen. Eine neuere, an der Universität Leipzig durchgeführte Studie wird mit folgendem Ergebnis präsentiert: "Sinti und Roma ziehen bei mehr als der Hälfte der Deutschen Ressentiments auf sich". Tendenz steigend.

Weiterführende Literatur zu Themen dieses Dreiteilers über Heinrich Lübke (mit Quellennachweisen):

Peter Bürger: Fang dir ein Lied an! Selbsterfinder, Lebenskünstler und Minderheiten im Sauerland. Eslohe: Museum 2013, S. 161-312.