Das Oktoberfestattentat war kein Werk eines Einzeltäters

Interview mit Tobias von Heymann über sein Buch "Die Oktoberfest-Bombe. - die Tat eines Einzelnen oder ein Terror-Anschlag mit politischem Hintergrund?" - Teil 1

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Am 26. September 2010 jährt sich zum dreißigsten Mal der Bombenanschlag auf das Oktoberfest. Der schlimmste Terror-Akt der deutschen Nachkriegsgeschichte forderte dreizehn Menschenleben. Über 200 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Ende September 1980 befand sich das Land in der Hochphase des Bundestagwahlkampfs und der damalige Kanzlerkandidat der CDU/CSU, Franz Josef Strauß beschuldigte sofort Linksextremisten sowie die sozialliberale Koalition, insbesondere den damaligen Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) für die Tat unmittelbar und indirekt verantwortlich zu sein. Nachdem diese Verdächtigung binnen kürzester Zeit durch die schnelle Identifizierung des Bombenlegers Gundolf Köhler und seiner Zuordnung zum rechtsradikalen Untergrund unhaltbar geworden war, wurde rasch die These von der Einzeltäterschaft Köhlers aufgestellt. Diese hat sich trotz massiver gegenteiliger Zeugenaussagen und erheblichen Zweifels bis zum heutigen Tag als offizielle Erklärung für den Bombenanschlag gehalten.

Der Journalist Tobias von Heymann recherchierte zum Oktoberfestattentat für sein Buch mehrere Jahre in den umfangreichen Akten des über den rechtsextremen Untergrund Westdeutschlands außergewöhnlich gut informierten Geheimdienstes der DDR und sorgte letztes Jahr mit seinen Enthüllungen für eine Kleine Anfrage der GRÜNEN im Bundestag. Telepolis sprach mit dem Autoren.

Herr von Heymann, das Fazit ihres Buches lautet: "Alle bekannte Indizien sprechen aus meiner Sicht heute dafür, dass Gundolf Köhler tatsächlich kein Einzeltäter ist." – Welche Indizien meinen Sie damit?

Tobias von Heymann: Im Kern lassen sich drei Indizienketten finden, die gegen die Einzeltäter-These sprechen. Die erste betrifft zunächst die Bombe selbst. Zwar ist bekannt, welche Firma die Hülle der britischen Mörsergranate und welche Firma den Feuerlöscher herstellte, die Teile der Bombe waren. Doch wer diese unmittelbar vor dem Anschlag besaß, hat die damalige „Soko Theresienwiese“ nicht herausbekommen. Ebenfalls unklar ist auch, wie der Zünder genau aussah und woher die rund 1,4 Kilo TNT als Sprengstoff stammten. Diese offenen Fragen bestreitet auch niemand, egal von welcher Seite.

Zweitens lassen sich die Kontakte von Gundolf Köhler in die Neonazi-Szene trotz einiger Lücken heute recht genau nachzeichnen. Er war keine harmlose Randfigur, sondern war laut Aussagen von Leuten, die ihn damals kannten, bereit für Aktionen. Laut Aussagen früherer Wehrsportgruppen-Mitglieder soll er im Sommer 1979 und eventuell sogar noch später an Wehrsportübungen in Baden-Württemberg teilgenommen haben – also nicht nur bei Karl-Heinz Hoffmann in Bayern. Noch ist aber nicht bekannt, wer da alles dabei war und die Übungen leitete.

"Oktoberfest-Attentat lässt sich heute nicht mehr isoliert betrachten"

Zudem hatte er erwiesenermaßen Kontakte zu seinerzeit führenden Rechtsextremisten und Neonazis, darunter auch mehrere einschlägig bekannte Namen: Er kannte sie und sie kannten ihn. Köhler war vor dem Anschlag schon längere Zeit am äußersten rechten Rand unterwegs, etwa fünf Jahre lang.

Drittens lässt sich das Oktoberfest-Attentat heute längst nicht mehr isoliert betrachten, auch wenn das als schwerster Anschlag der deutschen Nachkriegsgeschichte natürlich einen besonderen Stellenwert besitzt. Letztlich fällt das Wiesn-Attentat genau in eine Phase, in der ein rechtsterroristischer Untergrund eine ganze Serie von Anschlägen und Terror-Aktionen unterschiedlicher Form und Intensität in Deutschland und anderen westeuropäischen Staaten verübte. Diese Leute pflegten enge Kontakte untereinander, waren gut organisiert, verfolgten die gleichen strategischen Ziele und handelten nach ähnlichen Konzepten.

Internationales rechtes Terror-Netzwerk

Das Oktoberfest-Attentat fällt da insgesamt überhaupt nicht als exotisches Einzelverbrechen aus dem Raster heraus – im Gegenteil: Das war zumindest für Deutschland eher der Gipfel eines Prozesses der militanten Radikalisierung im Neonazi-Lager.

Kennzeichen der Neo-Nazi-Gruppen der 1970er und 80er-Jahre war eine nach außen hin zersplittert wirkende Struktur. In Wirklichkeit aber waren die Neo-Nazis stark vernetzt. Die Neo-Nazis verfolgten im Vergleich zu den Linksextremisten eine ganz andere Strategie, die auf verschiedenen Ebenen zur gleichen Zeit ablief. Auf unterster Ebene finden wir Aktivitäten wie anonyme Schmierereien, dann gab es die direkte körperliche Auseinandersetzung und ganz oben finden wir richtig durchgeplante Terror- und Brandanschläge, Anschläge mit Schusswaffen aus dem Untergrund heraus. Das Ziel dieser Angriffe war und ist immer das gleiche: Es soll ein Klima von Angst und Unsicherheit entstehen, das politische Gegner und die Zivilgesellschaft einschüchtert. Damit wollen die Neo-Nazis ein Umfeld schaffen, in dem sie sich in ihrem Sinne ausbreiten und festsetzen können. Wenn man sich bekannt gewordene rechtsextreme Anschläge dieser Phase in Belgien, Italien oder Frankreich genauer ansieht, haben hier interessanterweise Personen unterschiedlicher Nationalität über einen längeren Zeitraum zusammengewirkt. Deutsche Neo-Nazi-Gruppen haben mit Neo-Nazis aus den USA um Gerry Rex Lauck und seiner NSDAP/AO zusammengearbeitet. Wie aus den Stasi-Unterlagen sehr deutlich hervorgeht, habt z.B. die Braunschweiger Gruppe regelrecht Anschläge gegen Geld aus den USA verübt. Dies lief so ab: Die Braunschweiger Gruppe führt eine Aktion durch, fotografiert sie, schickt Fotos als Beleg in die USA und erhält dafür Geld.

"Wirken westlicher Geheimdienste im rechtsradikalen Untergrund"

Diese Gruppen haben sich regelmäßig ausgetauscht und auch z.B. in Kopenhagen oder England getroffen. Für Deutschland war die Wehrsportgruppe Hoffmann und ihr Umfeld die zentrale Organisation. Man muss das terrorisierende Netzwerk der Neonazis in den 1970er/80er Jahren daher immer mitdenken, wenn man sich mit dem Oktoberfest-Attentat befasst.

Inwiefern war die Einsicht in die Stasi-Akten für die Rekonstruktion dieser Indizien hilfreich?

Antwort: Das in den Stasi-Akten gesammelte Wissen war und ist zum Erforschen der Neonazi-Aktivitäten bis Ende der 1980er Jahre äußerst hilfreich und nützlich. Mittlerweile habe ich wohl über 18000 Seiten Dokumente ausgewertet, die einen sehr guten Einblick in die Aktivitäten rechtsextremer Gruppen geben. Die Stasi war da ziemlich genau im Bilde, was sich dort tut. Die Papiere sind sehr faktenreich. Wofür sich das MfS überhaupt nicht interessiert hat, sind Gerüchte wie sie Mitte der 1980er Jahre in der Bundesrepublik verbreitet waren und leider noch heute nachwirken, z.B. die Legende, dass ein Zeuge des Attentats angeblich „mysteriös“ ums Leben gekommen sein soll. Damit hat sich die Stasi nicht befasst. Nachrecherchen in dieser Sache zeigen heute auch, dass da auch tatsächlich nichts dran war. Die Materialfülle ist erstaunlich, teilweise blickt man beim Lesen in regelrechte Abgründe des äußersten rechten Randes.

Unterschiedliche Berichte von LKA und Bundesanwaltschaft

Viele der Papiere ergänzen wie bei einem großen Puzzle fehlende Teile eines Gesamtbildes und helfen, bekannte und unbekannte Zusammenhänge weiter zu durchdringen. Neben zum Teil sehr präzisen Informationen über das personelle Geflecht der Neonazis und deren internationale Verbindungen findet sich beispielsweise auch Material, das das Wirken westlicher Geheimdienste in diesem Untergrund beschreibt.

Auch der Verfassungsschutz und die Kriminalpolizei haben zum Oktoberfestattentat ermittelt. Unterscheiden sich deren Untersuchungsergebnisse von denen der Stasi?

Tobias von Heymann: Das würde ich differenziert betrachten. Im engeren Sinne haben aufgrund föderaler Zuständigkeiten nur Landeskriminalämter ermittelt, teilweise zusammen mit dem Bundeskriminalamt. Im Falle des Oktoberfest-Attentats ermittelte die „Soko Theresienwiese“, in der überwiegend Beamte des bayerischen Landeskriminalamts tätig waren. Die für solche terroristischen Gewalttaten zuständige Generalbundesanwaltschaft hatte das bayerische LKA seinerzeit mit den Ermittlungen beauftragt. Heute liegen zwei Berichte vor – ein Schlussvermerk des bayerischen Landeskriminalamts vom Mai 1981 und ein Vermerk von der Generalbundesanwaltschaft vom November 1983. Diese beiden Berichte unterscheiden sich in entscheidenden Nuancen. So kommt das bayerische LKA (Zitat) „zu dem Schluss, dass Gundolf Köhler den Sprengsatz gebaut, ihn zum Tatort gebracht und seine Explosion verursacht hat.“ Auch spreche „nichts konkret dafür“, dass Angehörige rechtsextremistischer Gruppen mit dem Anschlag in Verbindung stehen.

Zum Motiv Köhlers, „das im Vermutungsbereich“ liege, „können keine sicheren Aussagen getroffen werden.“ Dann ist von einem „Ursachen- und Motivbündel“ sowie „unkontrolliertem Hass auf die Umwelt“ die Rede. Der Vermerk der Bundesanwaltschaft ist bei der Frage nach einer möglichen Alleintäterschaft Köhlers dagegen offener formuliert. Demnach spräche „für eine Tatbeteiligung Dritter“ nur „einige unterschiedliche Beweiserkenntnisse, die einen abschließenden Nachweis der Tatbeteiligung jedoch nicht zulassen.“ Das heißt: Verdachtsmomente lagen offenbar vor, nur letztlich keine ausreichenden gerichtsfesten Beweise. Am Ende schreibt die Bundesanwaltschaft, dass das Verfahren „mangels begründeten Tatverdachts und im übrigen mangels Täterermittlung einzustellen“ sei. Das heißt übersetzt: Vielleicht waren Dritte an der Tat beteiligt, nur ließen sich diese im Zuge der Ermittlungen eben nicht feststellen.

Konflikte zwischen Tandler und der Bundesanwaltschaft

Man darf dabei nicht ausblenden, dass die Ermittlungen damals von großen Konflikten insbesondere zwischen Bayerns damaligem Innenminister Gerold Tandler und der Bundesanwaltschaft überschattet waren. Teile der bayerischen Landesregierung haben von Anfang an mal mehr mal weniger offen versucht, Bundesbehörden wie das BKA oder die Bundesanwaltschaft aus den Ermittlungen herauszuhalten und haben offen Zweifel an deren Zuständigkeit geäußert. Z.B. hat das Bundeskriminalamt angeboten, Spezialisten für die Tatortsicherung zu schicken. Dies wurde vom LKA Bayerns abgelehnt. Unklar ist bis heute, ob beispielsweise die Bundesanwaltschaft überhaupt alle Unterlagen der „Soko Theresienwiese“ und anderer bayerischer Behörden einsehen konnte. Nur ein konkretes Beispiel: Aus Stasi-Akten geht hervor, dass der damalige rechtsextreme Top-Terrorist Udo Albrecht Kontakt zur „Soko Theresienwiese“ hatte und mit Ermittlern gesprochen hat. Albrecht kämpfte schon Ende der 1960er Jahre beim „Schwarzen September“ der PLO in Jordanien und war später – unter anderem – ins Attentat auf die Olympischen Sommerspiele in München von 1972 verwickelt. Er war auch derjenige, der Karl-Heinz Hoffmann Kontakte in den Nahen Osten vermittelte. Eine Zeitlang stand Albrecht auch in Kontakt zu Werner Mauss. Merkwürdig hierbei ist: Die Aussagen Albrechts tauchen weder im Abschlußbericht der Bundesanwaltschaft, noch des Bayerischen Landeskriminalamts auf. Bis auf die Stasi-Unterlagen sind noch keine Dokumente dazu bekannt und ohne diese Akten wüssten wir bis heute nicht, dass die „Soko Theresienwiese“ jemanden dieses Kalibers befragt hat.

Meines Wissens spielten aber auch Erkenntnisse von Verfassungsschutzämtern keine Rolle in dem damaligen Verfahren. Das hängt mit dem Trennungsgebot zwischen Polizei und Nachrichtendiensten zusammen sowie damit, dass Verfassungsschützer eigentlich nur beobachten dürfen und keine polizeilichen Befugnisse haben. Wie kompliziert das Verwenden von Verfassungsschutz-Erkenntnissen für Gerichtsverfahren sein kann, hat ja jüngst erst der Fall der früheren RAF-Terroristin Verena Becker gezeigt. Im Fall des Oktoberfest-Attentats ist noch viel zu wenig darüber bekannt, was Verfassungsschutzämter an Erkenntnissen im Vorfeld und danach gewonnen haben könnten. Dieses Wissen zu erschließen, wäre sehr sinnvoll.

"Stasi besaß genaue Kenntnisse über zentrale Akteure der militanten Neonazi-Szene"

Was den weiteren Inhalt der Stasi-Akten angeht, so lässt sich daraus ein sehr detailliertes Gesamtbild zu den Geschehnissen in München und darüber hinaus rekonstruieren. Im Kern lässt sich das Ergebnis so zusammenfassen: Die Stasi hat eindeutig im Vorfeld nicht gewusst, dass ein Attentat in München bevorsteht. Sie hatte auch keine Agenten vor Ort. Danach allerdings war der Geheimdienst zügig in der Lage, den Ablauf zu rekonstruieren. Jahrelang sammelte die Stasi eigenständig Informationen über rechtsextremistische Terrorakte – ob diese nun bereits Jahre zurücklagen oder nicht. So finden sich in der Fülle an Dokumenten aus verschiedenen Phasen immer wieder auch Informationen über das Oktoberfest-Attentat. Kopien von Original-Ermittlungsakten der „Soko Theresienwiese“, Einsatztagebücher oder Ähnliches besaß die Stasi allerdings nach heutigem Wissen nicht. Die Frage, ob Gundolf Köhler Einzeltäter war oder nicht, hat sich die Stasi nie gestellt, das war überhaupt kein Thema. Das ist dann auch der große Unterschied zwischen den westlichen und östlichen Erkenntnissen.

"Über 40 Informanten"

Aufgrund der hohen Informationsdichte und sehr guter Detailkenntnisse über die Neonazi-Szene in Deutschland und im Ausland stand für die Stasi schnell außer Frage, in welchem Kontext sich das Attentat abspielte. Die Stasi besaß genaue Kenntnisse über zentrale Akteure der militanten Neonazi-Szene in West-Europa und deren Verbindungen untereinander. So konnte sie den Anschlag aus ihrer Sicht einordnen.

Wie kam die Stasi überhaupt zu Informationen aus der Neo-Nazi-Szene?

Tobias von Heymann: Das MfS nutzte hier das gesamte Instrumentarium an klassischen nachrichtendienstlichen Möglichkeiten. Neben frei zugänglichen Quellen versuchte die Stasi vor allem, über Inoffizielle Mitarbeiter (IM) möglichst viel über den militanten und terroristischen Untergrund der Neonazi-Szene zu erfahren. Anfang der 1980er Jahre lieferten beispielsweise über 40 Informanten regelmäßig Informationen über Personen, Gruppen, Strategien, technisch-logistische Fähigkeiten, Waffenbesitz und Aktionen der Neonazi-Szene nach Ost-Berlin. Von allen damals aktiven Terrorgruppen schätzte die Stasi die von Neonazis ausgehende Gefahr für die damaligen Staaten des sozialistischen Lagers sehr hoch ein. Daher erklären sich der Aufwand an geheimdienstlicher Aktivität und die Fülle von Material als Ergebnis davon.

In Teil 2 des Interviews spricht Tobias von Heymann über die Oktoberfestbombe, die Aktivitäten westlicher Geheimdienste in der Neo-Nazi-Szene und die Rolle der Wehrsportgruppe Hoffmann