Die Unabhängigkeit des Internet und der Massengeist

John Perry Barlow hat eine Unabhängigkeitserklärung für den Cyberspace veröffentlicht. Horvath plädiert dafür, endlich mit den Mythen über das Internet Schluß zu machen und es als Massenmedium zu verstehen, weil wir nur so die Gefahren sehen und sie vielleicht mildern können, die mit jeder neuen Technologie einhergehen.

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

John Horvath

Im Internet stolpert man gelegentlich über die wirren Phantasien von Menschen, die nichts besseres zu tun zu haben scheinen, als sich selbst in gedruckter Form, d.h. über einen Computerbildschirm, zu sehen. Ein Beispiel eines solchen verbalen Durchfalls (was von erfahrenen Benutzern des Internet einfach "Rauschen" genannt wird) ist der Artikel von John Perry Barlow mit dem Titel Ein-Mann-Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace. Natürlich fragt man sich zunächst einmal, wer ihn überhaupt darum gebeten hat. Ein Netzkollege hat es treffend formuliert: "Es fällt nicht schwer, über diese Erklärung als eine High-Tech-Version der alten Hippie-Phantasie zu lachen, aus der bürgerlichen Gesellschaft in eine psychedelische Traumwelt auszusteigen."

Barlow war - für diejenigen, die das Glück haben, von ihm noch nicht gehört zu haben - ein Liedtexter für Grateful Dead, ein Berater der NSA und Mitgründer der Electronic Frontier Foundation. Andere sehen ihn in einer bedrohlicheren Perspektive. Für Mark Stahlman von New Media Associates ist er "ein Sprecher der Brainlords". Der Neologismus stammt von Vlahos, der dem think tank von Gingrich angehört, und soll die 5% der Bevölkerung kennzeichnen, die verantwortliche Positionen in dem erschreckenden neuen Feudalismus seiner ByteCity einnehmen.

Stellt man die persönlichen Eigenschaften beiseite, dann ist das Schockierende an Barlows Essay (und das gilt für jeden, der an die Unverletzbarkeit des Netzes glaubt) die Unkenntnis darüber, wie gut das Internet zur Überwachung eingesetzt werden kann. Die Überzeugung, daß Regierungen im Internet über „keinerlei Überwachungsmöglichkeiten zu verfügen, die wir zu Recht fürchten müssen", ist schlicht falsch. Zugegeben sei, daß herkömmliche Mittel wie die Zensur einzelner Informationen nicht mehr länger praktikabel ist. Doch mit jeder neuer Technologie gehen auch neue Methoden einher. Zugangsbeschränkungen oder einfach ein Überangebot an Information sind derzeit für jeden verfügbare Methoden, um Wahrheit zu verschleiern oder zu unterdrücken. Im Fall der Informationsschwemme ist es ganz einfach, durch eine Flut einander widersprechender und verwirrender Informationen aus einer Vielzahl von Quellen zu verhindern, daß man entdeckt, was wirklich geschieht (oder geschehen ist).

Wir müssen nicht nur Angst vor politischen Dingen haben. Große Firmen können genauso ausbeuterisch sein, wenn es um ihre eigenen Interessen geht. Ein Beispiel war der Versuch der industriellen Überwachung von Microsoft mit seinem "Registration Wizard", diesem kleinen geschickten Programm, das die Inhalte der Benutzeradreßbücher zu Microsoft übertragen konnte, um diese Information zu irgendeinem Zweck zu benutzen. Daher scheint es im Gegensatz zur Behauptung Barlows mehr "Überwachungsmöglichkeiten zu geben, die wir zu Recht fürchten müssen", als wir uns vorstellen.

In der Geschichte wurde die Einführung neuer Massenmedien vom Glauben an ihren befreienden Einfluß begleitet. Die Musik der 50er und 60er Jahren wurde beispielsweise als Ausdruck einer Generation gesehen. Doch schrittweise erkannte man, daß es hier nicht nur um Rock and Roll ging, sondern auch ums Geld. Überdies sind die Kleider oder die Haartracht jeder Generation nicht so sehr ein individueller Ausdruck, sondern ein Versuch, sich als ein Gruppenmitglied zu zeigen, was dann durch Werbeleute ausgebeutet wird.

Was aber das Internet vermeintlich von anderen Massenmedien unterscheidet, ist die scheinbar anarchistische Weise des Informationsaustausches. Für die meisten Menschen ist das der Beweis, daß das neue Medium ein sicheres Mittel der Massenkommunikation ist. Es gibt sogar einen weit verbreiteten Mythos, daß die Menschen, also die Benutzer selbst das Internet konstruieren und ausbauen. Konsequenterweise richtet sich das Eigeninteresse der „Netzpioniere" darauf, daß ihre Kanäle weiterhin offen sind und frei zugänglich bleiben.

In Wirklichkeit aber ist das Gegenteil wahr. Das Internet ist kein Produkt von „dir und mir", wie uns dies Barlow glauben machen möchte, sondern es ist ein an die Öffentlichkeit übergebenes Überbleibsel aus der Zeit des Kalten Krieges und ein Nebenprodukt des militärisch-industriellen Komplexes. Es ist auch kein Produkt unserer Imagination, sondern sehr konkret und real.

Die Konstruktion der Infobahn ist ein enormer materieller Prozeß. Arbeiter aus Fleisch und Blut haben eine große Menge ihrer Lebenszeit damit verbracht, Hardware zu entwickeln, Computer zusammen zu bauen, Routersysteme zu installieren, Software zu schreiben, Webseiten zu gestalten usw.

Richard Barbrook

Das Netz ist nicht nur nicht von "dir und mir" konstruiert worden, sein gegenwärtiger Ausbau hängt auch nicht von unseren Anstrengungen ab, die "Regierungen der industriellen Welt" zu transzendieren. Das Netz ist das Ergebnis der globalen Ökonomie, in der alle nationalen Wirtschaftssysteme den von multinationalen Unternehmen diktierten Marktbedingungen unterworfen sind, die man heutzutage den "internationalen Handel" nennt. Die größte Bedrohung für das Internet kommt offenbar von der globalen Ökonomie, da sie den ersten Schritt hin zur Schaffung eines Massengeist darstellt.

Der Massengeist tritt in einer geschichtlichen Epoche auf, in der die Welt zu einem sterilen Asyl wird und alle Menschen dieselbe Kleidung tragen, dieselben Lebensmittel essen, dieselben Meinungen haben und nach denselben Unterhaltungsformen süchtig sind. Zu Beginn der globalen Ökonomie werden demgemäß Gesetze entworfen und eingeführt, die die individuelle Freiheit beschränken sollen. Dadurch wird unser Leben weiter standardisiert - in diesem Fall innerhalb eines juristischen Rahmens.

Die Privatisierung des Cyberspace scheint mit der Einführung einer tiefgreifenden Zensur einher zu gehen.

Richard Barbrook

Im Augenblick scheint es noch einen gesunden Widerstand gegenüber einer solchen Standardisierung im Internet zu geben. Der Aufstand gegen das Exon Amendment zum Communication Decency Act (CDA) ist ein Beispiel für diesen Widerstand gegenüber den restriktiven Einflüssen der Psychologie des Massengeistes. Man sollte aber nicht vergessen, daß dieser Widerstand auch durch eine Reihe von kaschierten Interessensgruppen wie von der Firma Microsoft unterstützt wird, die auf die Macht multinationaler Unternehmen innerhalb der globalen Ökonomie verweist, in der keine politische Regulierung des Internet in die profitorientierten Zielen der großen Firmen eingreifen darf.

Auch wenn dieses Gesetz im Netz und außerhalb von ihm in einer großen Öffentlichkeit diskutiert wurde, ist es nur die Spitze eines Eisberges. Das volle Potential des Internet liegt darin, für individuelle Benutzer genauso schnell geschlossen werden zu können, wie es für sie geöffnet wurde. Beispielsweise wurde die Benutzung des Internet Relay Chat (IRC) bereits von Providern in vielen Ländern stark eingeschränkt. In Verbindung damit wurde fast unbemerkt ein Gesetz verabschiedet, das genauso restriktiv wie das CDA ist, aber die Aktivitäten der großen Unternehmen erleichtert. Beispielsweise gibt es seitens der American's Carrier Telecommunications Association (ACTA) eine an die Federal Communication Commission (FCC) gerichtete Petition, die eine Regulierung des Internet Phone und von anderen Sprachdiensten im Internet anstrebt.

Die Freiheit der Meinungsäußerung im Netz wird nicht nur vom Staat, sondern auch vom Markt bedroht.

Richard Barbrook

Über die einzelnen Gesetze und Petitionen hinaus sind auch die Aktivitäten der Telekommunikationsunternehmen ein Anlaß zur Sorge. Kleine und mittlere Online-Provider tun sich mittlerweile immer schwerer, für ihre Kunden einen Netzzugang bereitzustellen. Staatliche Monopole behindern in Europa die Arbeit vieler. Manchmal kontrollieren diese Monopole die Informationsmenge, die in ein Land und aus ihm herausfließt, so daß Dienste, die eine hohe Kapazität benötigen, leicht eingeschränkt und gesteuert werden können.

Der Glaube an die Abgesichertheit des "Cyberspace" ist eine Illusion. Teilweise resultiert das aus einer falschen Vorstellung des Cyberspace. Der Begriff "Cyberspace" ist ein Mißbrauch der Wortbedeutung von "Cyber". Das Wort kommt von Kybernetik und hat nichts mit dem zu tun, was sich die Menschen unter dem Internet vorstellen - eine Art "Star Trek"-Welt, in der man neue Lebensformen und Zivilisationen ausprobiert und tapfer dorthin geht, wo bislang außer ein paar Freunden noch niemals jemand gewesen ist. Ironischerweise haben die Menschen ein Bedürfnis, einer Aktivität eine materielle Bedeutung zu verleihen, die vermutlich gleichzeitig zum Zusammenbruch der Geographie oder, worauf manche eifrig hingewiesen haben, „zum Tod der Entfernung" führt.

Barlow und andere können nicht begreifen, daß der Begriff des "Cyberspace" keine materielle Entität ist. Das bedeutet nicht, daß das Medium, d.h. das Internet, keine materielle Seite besitzt. Es hat einen materiellen Aspekt, aber der ist vom durchschnittlichen Benutzer weit entfernt. Nur wenige berücksichtigen die materielle Konstruktion und Wartung des Glasfasernetzes, das wir Internet nennen, und den einfachen Sachverhalt, daß es jemand bezahlen muß. Weil die Kosten so hoch sind, daß keine Regierung sie ohne weiteres bezahlen kann, hängt die bloße Existenz des "Cyberspace" von der Gnade der großen multinationalen Unternehmen ab, da einzig sie genug Kapital und Investitionen für die Finanzierung eines solchen Projekts auftreiben können. Egal ob wir dies wissen oder nicht, gibt es deshalb Beschränkungen und Kosten für seine Benutzung.

Mit den falschen Ideen und der vermeintlichen Abgesichertheit des Cyberspace geht eine ähnliche Illusion über das Internet einher, wenn man glaubt, es sei bereits ein Mittel zur Befreiung der Menschheit. Wir schaffen eine Welt", so schreibt Barlow in diesem Sinne, "ohne die aus der Rassenzugehörigkeit, der wirtschaftlichen Macht, der militärischen Stärke oder dem Herkunftsort stammenden Privilegien und Vorurteilen." Er und andere sehen nicht, daß das Internet noch immer ein Spielzeug der reichen industrialisierten Länder ist. Damit verbunden ist der Zugang nicht universal, selbst nicht in industrialisierten Ländern. Überdies hat auch für diejenigen, die sich einen Computer leisten können, die explosive Erweiterung der Computertechnologie während des letzten Jahrzehnts eine neue Klasse innerhalb der Gesellschaft geschaffen: eine technokratische Elite, deren Macht und Einfluß die jeder anderen Elite übersteigen, die wir bis heute kennen.

Da mehr Geld aus der Wirtschaft für die Bereitstellung von Online-Diensten kommt, wird es für Amateure immer schwieriger, Web-Sites von solcher Qualität herzustellen, die eine große Menge an Benutzern anziehen.

Richard Barbrook

Anstatt nur einfach „"as neue Zuhause des Geistes" zu sein, wie Barlow gerne glauben würde, sollte das Internet nur als ein Werkzeug verstanden werden, um schnell Informationen zu verschicken und zu empfangen, die auch für die Benutzer des Web in Ton und Bild sein können. Im Augenblick befindet es sich in den Händen von wenigen Privilegierten, und sein volles wirtschaftliches Potential muß erst noch ausgeschöpft werden. Aber wie bei allen elektronischen Mitteln kann man sich, wenn die Netzeuphorie weniger wird, auch vorstellen, daß seine Popularität abnimmt und der "Cyberspace" dem untergegangenen Atlantis gleicht.

Durch ein falsches Verständnis wie dem der Unverletzbarkeit des Internet werden Menschen schließlich unaufmerksam gegenüber den bestehenden Gefahren und von dem isoliert, was um sie herum in der Welt geschieht.

Nötigung ist eine ganz reale Bedrohung und eine immer größere Gefahr, genauso wie Hunger, Armut und Erniedrigung - die wirklichen Hinterlassenschaften der postindustriellen Gesellschaft.

Mark Stahlman

Andere wie der Unabomber haben eine radikalere Sicht, wenn er glaubt, daß unsere technokratische Welt weit genug vorangeschritten sei und es jetzt an der Zeit sei, "die Uhr zurück zu drehen", bevor es zu spät ist.

Aber die Vorstellung, die Zeit zurückzuschrauben, ist so lächerlich wie die Unabhängigkeit des Cyberspace zu erklären. Stattdessen muß man endlich den Preis der Technologie erkennen. Überdies müssen wir erkennen, alle möglichen neuen Werkzeuge, die wir erfinden oder entwickeln mögen, stets für ausbeuterische politische und wirtschaftliche Zwecke verwendet werden können (was unvermeidlich geschehen wird).

Dann erst können wir die Spirale der Geschichte erkennen, die ihre endlose Drehung fortsetzt. Als Alfred Nobel zum ersten Mal die Explosionskraft des TNT erkannte, glaubte er, daß es niemals im Krieg eingesetzt würde, weil die Folgen einfach zu schrecklich wären. Wir wissen alle, daß er damit völlig falsch lag. Wenn wir nun denken, daß wir ein Massenkommunikationsmittel wie das Internet für unabhängig von den Kräften erklären zu könnten, die es zu beherrschen suchen, dann gehen wir auf ähnliche Weise einen Schritt weiter zur Akzeptanz eines Massengeistes.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer