Die Ohnmacht des Autors im Netz

Ändert sich das Schreiben im Netz? Durch den Wegfall redaktioneller "Zensur", die Anhäufung von Datenmüll und den interaktiven Möglichkeiten im öffentlichen Raum beginnt jedenfalls die Autorität des Autors zu schwanken - und die Leser werden zu potentiellen Autoren.

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Schreiben im Netz scheint erst einmal den Spielraum von Autorinnen und Autoren zu erweitern, indem es möglich wird, multimediale Elemente in Texte einzubeziehen - verschiedene Schriften, Farbe, Bilder und Grafiken, die eingescannt werden, bis hin zu Tonelementen als Wav-Dateien oder ikonischen Zeichen, welche Verweischarakter übernehmen (zum Anfang eines Textes, für E-mails an den Autor etc. ). Auch die Struktur eines Textes kann deutlicher herausgehoben werden - etwa indem klar definierte Abschnitt vom Inhaltsverzeichnis eines Textes aus direkt angesprungen werden, oder indem direkte Links vom Zitat zum Buch oder Artikel im Literaturverzeichnis gesetzt werden.

Im Grunde bleibt aber alles beim alten: Texte sind nach wie vor strukturell nach dem Muster der Linearität aufgebaut. Allenfalls sind Web-Texte kürzer als Buch oder Zeitschriftentexte, weil es offenbar für schriftgewohnte Leser schwierig ist, längere Texte am Bildschirm zu lesen. Doch auch hier gibt es eine einfache Lösung: Wer längere wissenschaftliche Texte im Internet publiziert, rechnet ohnehin damit, dass die Interessenten diese ausdrucken (so kann man sie gleich als Zip- oder Pdf-Files zum Download anbieten). Gegenüber Zeitschriften und Büchern haben sich bei Publikationen nach diesem Muster nicht die Texte verändert, sondern der Verteilkanal. Schon dies ist nicht unwesentlich; denn damit löst sich das Wort von den traditionellen Autoritäten (Redaktionen, Verlagen, wissenschaftlichen Kommissionen etc.) ab, die darüber wachen, was publikationswürdig ist und was nicht. Jeder Internet-User, der mit seinem Anschluss auch die Möglichkeit erhält, eine Homepage zu erstellen, kann an den traditionellen Kanälen vorbei seine literarische oder wissenschaftliche Arbeit öffentlich publizieren. Die Ablehnung eines Manuskriptes durch einen Verlag - sei sie auch noch so berechtigt - wird nicht mehr verhindern können, dass dieses weltweit zum Abruf bereitsteht.

Datenmüllberge

Das weckt zwiespältige Gefühle: einerseits kann man das Internet als demokratisches Medium feiern, das in seiner faktischen Unkontrollierbarkeit allen Bestrebungen der Zensur entgegensteht. Niemand kann in Zukunft mehr Öffentlichkeit verhindern - aus welchen Gründen er dies auch immer möchte. Dies ist die eine Folgerung, die an dieser Stelle zu ziehen ist. Auf der anderen Seite gilt aber auch: Es gibt keine lizenzierten Stellen mehr, welche die Verbreitung von überflüssigen Informationen verhindern könnten, da im Internet alles gleichgewichtig erscheint. Wenn jeder, dessen Diplomarbeit an einer Hochschule abgelehnt wurde oder dessen literarische Ergüsse niemand abdrucken wollte, dies nun einfach im Internet auf eigene Rechnung tut, bedeutet dies eine Vergrösserung des Datenmülls, die letztlich zur Verstopfung der Informationskanäle führt. Umso schwieriger wird es sein, in diesen riesigen Informationsspeicher noch Informationen zu finden, die den Suchaufwand lohnen.

Die damit angedeutete Problematik wird am Begriff des Mülls greifbar, welcher eine analoge Doppeldeutigkeit in sich trägt (vgl. Bardmann 1994). Denn Müll ist ein umweltrelativer Begriff, mit welchem dasjenige als Abfall bezeichnet wird, was der Beobachter von seinem eigenen systemrelativen Standpunkt ausschliesst - als das Nutzlose, nicht Dazupassende, Überflüssige, aber auch als das, was nicht ins System passt, was gefährlich und unangepasst bzw. unterdrückt ist. Diesem eine Stimme zu geben - unzensoriert und ohne Forderung nach Anpassung, das ist das subversive und demokratische Element, welches ein System irritieren und es zu neuem Verhalten herausfordern kann. Per saldo kann man deshalb sagen, dass der informationelle Müll auszuhalten ist, wenn das Netz all jenen Partizipationschancen geben will, die dies wünschen. Wenn der Datenmüll verschwände, dann wäre auch das Innovative und Kreative des Netzes verschwunden - denn es gehört zur Definition von Müll, dass man nie weiss, ob man puren Schrott vor Augen hat oder etwas, das erst aus anderer Perspektive seine Qualitäten enthüllt.

Interaktivität und Hyperlinks

Ein weiteres wesentliches Merkmal von Internet-Texten ist die Interaktivität. Sie wird heute allerdings oft noch wenig genutzt. Häufig findet man auf einer Web-Seite gerade noch die Aufforderung, dem Autor eine Nachricht als E-mail zukommen zu lassen; oder ein On-line Journal bietet eine Kommentarseite an, auf welcher zu einem dort erschienen Text Stellung bezogen wird. Schon dies deutet indessen das Prinzip an: Am Strang des Textes entlang wird weiter geschrieben: einer beginnt und ein anderer knüpft an - ohne dass die Beteiligten sich kennen oder physisch präsent sind. Wenn man diesem Konzept konsequent folgt, bedeutet dies: Als Besucher einer Homepage werde ich aufgefordert, einen Krimi oder eine Erzählung fortzuschreiben. Damit beginnt die Individualität des Textes und seines Autors zu verschwinden. Rhizomartig wird ein Geflecht angelegt, mit plötzlichen Wendungen und Brüchen - und einem ungewissen Ende. In einem buchstäblichen Sinne sind es offene "writerly texts" (Fiske), indem jeder Lesende gleichzeitig Schreiber ist, und die Geschichte, die er mitgestaltend liest bzw. lesend mitgestaltet, zum Produkt kollektiver Aktivität wird.

Doch immerhin spielt sich die Bewegung noch innerhalb eines geschlossenen Textes ab, der einen definierten Anfang und ein Ende hat: Wer weiterschreibt, muss anschliessen, und dieser Anschluss wird im allgemeinen nicht zufällig sein, sondern ist durch die Züge und Fäden des bisher Geschriebenen beeinflusst. Man sieht, dass der Text zwar seine Autorität einbüsst, aber bis zu einem gewissen Grad ist sie immerhin noch präsent.

Hier setzt das Konzept des Hyperlinks ein - mit der Möglichkeit, einen Text oder ein Bild mit weiteren Texten und Bildern, die auf anderen Homepages stehen, zu vernetzen: Ich klicke zum Beispiel auf eine Textpassage zur digitalen Stadt Amsterdam - und lande auf deren Hauptplatz. Auf diese Weise kann ich fremde Texte in meine eigene Homepage integrieren; sie gleicht in dieser Hinsicht einem Knoten mit vielfältig verknüpften Fäden im Spinnennetz des Internet. Die Links sind nichts anderes als Schnittstellen, die Textbausteine zu einem komplexen Netzwerk verknüpfen. Nach Sandbothe ergibt sich dadurch eine neuartige bildhafte Struktur, weil in diesem Netzwerk anklickbare Bilder und Piktogramme in ein komplexes Ganzes integriert sind.

Der Schreibende entwickelt ein netzartiges Gefüge, ein rhizomatisches Bild seiner Gedanken. Dieses Bild ist vielgestaltig, assoziativ und komplex. Es besteht aus einer Pluralität unterschiedlicher Pfade und Verweisungen, die der Lesende zu neuen Gedankenbildern formt, die sich aus dem Zusammenspiel zwischen der offenen Struktur des Textes und den Interessen und Perspektiven der Lesenden ergeben.:Mike Sandbothe

Die Autorität des Autors löst sich auf

Web-Texte sind also nicht nur Texte im Sinne der klassischen Literalität, die ein neues Medium gefunden haben, aber weiterhin im Sinne von Vilém Flusser das Legato als Geste des Schreibens, das Binden von distinktiven Elementen von Zeilen betonen. Im Hypertext ist es dagegen immer häufiger die Bildhaftigkeit, welche dessen Struktur bestimmt. So bildet sich - wenn auch erst langsam - eine neue Form der Publizität heraus. Die betrifft allerdings nicht allein den Zusammenhang von Bild, Sprache und Schrift, den Sandbothe anspricht. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach dem Subjekt jenes Verweisungsgefüges, das eine Webpage darstellt. Gibt es nur einen Autor (den Konstrukteur der Webpage) oder mehrere (die hinter den Verweistexten stehen)? Und wie kann ich als Autor mit meiner Autorität noch im Mittelpunkt stehen, wenn alle Verweise aus meinem Text hinausführen: Es ist ihr Sirenengesang, welcher den flanierenden Surfer wie Odysseus mit süssen Melodien lockt. Doch als Autor verfüge ich über keinen Mast, an welchen ich den Besucher meiner Homepage binden kann, damit er nicht über die von mir gesetzten Links gleich wieder aussteigt. Auch über die Konstruktion von Frames als umhüllender Mantel ist dieses Problem des Ausstiegs nicht zu lösen, höchstens zu verschieben. Es ist deshalb paradox: Dank interessanter Informationen und Links ziehe ich die Besucher auf meine Homepage - nur damit sie im nächsten Augenblick dieses Angebot nutzen und unwiderruflich verschwinden (allein registriert von meinem Web-Counter).

Dies bedeutet letztlich, dass ich sich die Autorität des Autors und seine Verfügung über den Text auflösen. Texte sind lediglich ein Relais, eine Schaltstelle, über die sich seine Leser auf andere Texte hin verzweigen und verteilen. Damit aber verschiebt sich das Gewicht definitiv auf die Seite des Lesers: er ist es, der als Flaneur im Web sich seinen eigenen Text konstruiert. Theoretisch erinnert dies an die Autoren im Umkreis der "British Cultural Studies" - etwa an John Fiske. Für ihn sind multiple und widerspruchsgeladene "writerly texts"mit ihrer Herausforderung an die Leser, sich daraus die eigene Bedeutungen zu konstruieren, ein Merkmal der "popular culture". In diesem Sinne ist auch das World-Wide-Web" zu verstehen, als Medium einer popular culture, welche auch oppositionellen Charakter hat - indem es sich den herrschenden literarischen Konventionen entgegenstellt und das Prinzip des Autors als Auctor und Autorität von geschlossenen Texten auflöst. Der Leser schafft subversiv seine eigenen Bezüge und es ist sein Vergnügen und seine Lust, sich beim Netzspaziergang den Sirenenklängen aller Autoren zu entziehen und einen eigenen Text zu kreieren, der eine flüchtige persönliche Spur als Fussabdruck durchs Web zieht.

Mag sein, dass das Netz zunehmend kommerzialisiert wird. Doch es ist keine blosse Konsumkultur, die entsteht, vielmehr bewahrt sie jenes Aktivitätspotential der popular culture, das darin besteht, dass der Konsument gleichzeitig ein Produzent von Bedeutungen wird. Und um diese Bedeutungen bilden sich Fangemeinden, Subkulturen und Interessengruppen, welche die Rolle jenes Subjekts übernehmen, die vormals im souveränen Autor zu finden war. Der Autor selbst ist zum Pfadinder, manchmal auch Fallensteller geworden, worin Netsurfer arglos hineintappen. So wird die Souveränität des allmächtigen Demiurgen von jener beschränkteren eines Arrangeurs abgelöst, für den primär zählt, wie sich die Zeiger von Verweisen miteinander verknüpfen, Schaltstellen gestalten und an welchen Stellen Übergänge und Kommentare zu plazieren sind.

Doch es ist nicht nur die Ohnmacht des Autors, welche Vertreter klassischer Literalität beklagen. Das Web ist in seiner Ungeordnetheit voll von schrillen, bunten, obszönen und skurrilen Texten. Es hat jenen Charakter des Karnevalesken, den John Fiske (1989) als Merkmal von populären Kulturen beschreibt. Wie der mittelalterliche Karneval ist auch das Web ein Ort von körperlichen Vergnügungen, die in Opposition zu Moralität, Disziplin und sozialer Kontrolle stehen. Dabei ist hier bewusst von Körperlichkeit die Rede - denn gerade in der Virtualität können jene - sexuellen und anderen obsessiven - Seiten gelebt oder phantasiert werden, die im "real life" für den einzelnen weitgehend tabuisiert sind. Wie beim Karneval sind es die "Unteren" und Machtlosen, die damit für sich einen Platz im kulturellen Raum für sich beanspruchen und durch Übertreibung und Parodie das ausserkarnevaleske Leben spiegeln. Nun soll nicht behauptet werden, dass sich das World-Wide-Web im Karnevalesken erschöpft, aber es ist ohne Zweifel ein wachsender Teil des bunten Bilderbuches "Internet".

Es ist deshalb auch kein Wunder, dass die Netzgemeinde jeden Versuch lautstark kritisiert, der versucht, das Chaos des Webs zu reglementieren. Denn damit wird versucht, die Rolle des Produzenten vom Leser wieder auf den Anbieter zu verschieben und die populäre Kultur des Netzs zu domestizieren - ein Unterfangen, das schon deshalb zum Scheitern verursacht ist, weil dies den neuen Formen der bildhaften Textualität des Internets diametral entgegenstünde.

Literatur

Bardmann, Thomas M., Wenn aus Arbeit Abfall wird, Frankfurt 1994
Fiske, John, Understanding Popular Culture, New York 1989
Flusser, Vilem, Die Schrift, Göttingen 1990
Sandbothe, Mike, Bild, Sprache und Schrift im Zeitalter des Internet, in: Cognitio Humana. Dynamik des Wissens und der Werte, Leipzig 1996