Micronations

pop~Topic

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Cyberspace ist noch immer Neuland. Unabhängigkeitserklärungen und sich im Datenraum formulierende Cowboys zeigen das deutlich. Der elektronische Raum bestimmt schon allein durch seine Existenz wirtschaftliche Strukturen neu und verspricht neue virtuelle Gebiete, die "Digitalen Territorien". Es stellt sich die Frage, wie diese wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen unsere Auslegungen von globaler Information beeinflussen. Wie wirken sich diese Informationsflüsse auf reale Lebensbedingungen aus?

pop~Tarts interpretieren die Entstehung neuer Datengebiete anhand der Theorien von Saskia Sassen, Professor für Stadtplanung an der Columbia Universität und demonstriert sie mit künstlerischen Internetzprojekten.

Pop~Feature über Ingo Günthers Projekt Refugee Republic.
Saskia Sassens Artikel über Die neue Zentralität im Telepolis Schwerpunktthema "Stadt am Netz".

FLÜCHTLINGE AUSGESCHLOSSEN!

Immer mehr Netzbenützer bestimmen ihr digitales Gebiet und ihre virtuelle Heimat im Datenraum so selbstverständlich, wie man seine Homepage oder die "Home"-Taste auf seiner Tastatur findet.

Diplomatischer NSK Pass

Künstler, die sich oft als erste in neue mentale Gebiete begeben, werden nun auch immer mehr zu jenen, die Modeströmungen und Lebensstile durchsetzen. Viele haben schnell die neuen Möglichkeiten der elektronischen Landschaften aufgegriffen. Künstlerstaaten und Virtuelle Republiken beinhalten neue ökonomische Angebote und persönliche Freiheiten. Solche digitalen Gebiete sind eine praktische Umsetzung real bestehender Probleme im geopolitischen Datenraum. Auch die Veränderung des Verständnisses vom realen geografische Raum und Ansprüche darauf sind mehrschneidig. Politische Grenzen sind offensichtlich immer noch von nationalen Interessen abhängig. Diese werden aber verstärkt von wirtschaftlichen Strategien bestimmt und oft bewußt hervorgerufen. Der Golfkrieg hat dies in erschreckender Realität gezeigt. Weitere Beispiele dafür sind auch die Entwicklungen im ehemaligen Jugoslawien, in der ehemaligen Soviet Union und der DDR. Eine nicht deutlich definierte politische und ökonomische Einheit kontrolliert noch immer das Leben und die Zukunft der Menschen in diesen Gebieten und wirkt sich auf ihre individuellen Lebensbedingungen aus.

In ihren jüngsten Vorträgen in Wien und Graz kritisierte und verdeutlichte Saskia Sassen die Bedingungen nonterritorialer Staatenbildung. Sie kann wie die Stadtentwicklung als nicht an geografische sondern wirtschaftliche Bedingungen gebundene gesehen werden. Das männlich bestimmte Konzept der Landnahme wird verstärkt in den elektronischen Raum übertragen.

Ausser der Belgierin Chantal Mouffe, die zu den "Paradoxien der Demokratie" arbeitet ist Sassen eine der wenigen weiblichen Denkerinnen in diesem Zusammenhang.
Sassen verdeutlicht das Konzept der Stadt und ihre Bedeutung in der Weltwirtschaft

...telecommunications has affected and altered the economic function of [international] cities.

Saskia Sassen

Wichtig wird im Zusammenhang mit dem elektronischen Raum, daß ein Staat wie eine Firma funktionieren kann. Dies ist eine Folge der Globalisierung der Kommunikation, Produktion von Information und des auf Datenflüssen beruhenden Finanzmarktes als neue Basis des Staatskapitals. Die Kontrolle und Zentralisierung der Macht vollziehen sich in den Dienstleistungsmetropolen, die die Anwesenheit von Flüchtlingen in blauen Arbeitskleidern brauchen, um die für die Wirtschaft nötigen Dienste anbieten können.

Künstlerstaaten sind nicht nur ein Bild für ein Denkmodell, das zur besseren Orientierung in den elektronischen Raum übertragen wird. Im Internetz werden wir momentan Zeugen eines digitalen Goldrausches. Firmen, Nationen und Individuen stecken, wie einst Goldgräber ihre Claims, persönliche elektronische Gebiete ab. Hier zählt heute wie damals wirtschaftliches Interesse.

Mittlerweile sind über 70 "Micronations", elektronische Kleinstaaten, im Internetz aufgelistet.

Diese Netzstaaten sind reale selbstverwaltete Einheiten und als Firmen registriert. Sie sind keine fiktiven Konstrukte, keine Fantasiegebilde. Einige Netzkunstprojekte erheben ebenfalls Anspruch auf reales Gebiet im Datenraum.

Das Thema der "Micronations", die aus wirtschaftlichem, theoretischen oder künstlerischem Interesse geschaffen werden, kann anhand von mehreren künstlerischen Beispielen behandelt werden:

Besuchen sie diese Staaten oder werden sie sogar ein Netzbürger!

Virtual Embassy NSK - Neue Slowenische Kunst
Refugee Republic - Ingo Guenther
RR bei T0
West Bank Industries
Nomad Territories
Invisible Embassy of Seborga

NSK Pass Ausstellung

Ein Mitglied von IRWIN, der Abteilung für bildende Kunst innerhalb der Künstlergruppe NSK (Neue Slowenische Kunst) stellt bei der Eröffnung der Hamburger Ausstellung Discord Sabotage of Reality am 28. Nov. 96 Reisepässe her.

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