Syrien: Nun gibt es sie doch die moderate Opposition?

"Mudschahedin" der Ahrar al-Sham-Miliz. Propagandafoto

Waffenruhe: Das russische Verteidigungsministerium führt Ahrar al-Sham, die eng mit der Al-Nusra-Front verbunden ist, neuerdings als "moderate Opposition"

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Die Rückeroberung Aleppos aus der Kontrolle der Dschidaisten war der Wendepunkt. Nun keimen neue Hoffnungen auf. Russland und die Türkei, sowie im Hintergrund Iran und die syrische Regierung, haben eine Waffenruhe für das ganze Land vereinbart. Seit Mitternacht ist sie in Kraft getreten.

Laut aktuellen Berichten wird sie eingehalten. Die Tagesschau zitiert die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) mit der Lageeinschätzung, dass es zu einer "umfassenden Ruhe" in Syrien gekommen sei.

Die syrische Nachrichtenagentur Sana veröffentlicht am Freitagvormittag die Wetteraussichten als erste Nachricht unter den Latest News und die regierungsnahe Publikation al-Masdar-News berichtet von einem kleineren Angriff der FSA und ihrer dschihadistischen Verbündeten auf Einheiten der syrischen Armee im Gouvernement Hama.

Hoffnung auf eine politische Gesamtlösung

Einem durchgesickerten Entwurfstext der Waffenstillstandsvereinbarung zufolge, sollen in einem Monat Verhandlungen über eine politische Lösung folgen.

Auch wenn es nicht möglich ist, die Authentizität des veröffentlichten Dokuments zu überprüfen, das vom Sprecher der Oppositionsvertretung Syrischen Nationalen Koalition (SNC), Hadi Al Bahra, als echt bestätigt wird, so deckt sich der Zeitplan mit Ankündigungen, wonach für Ende Januar eine Konferenz in Astana (Kasachstan) anberaumt ist, die Modalitäten für eine politische Lösung in Syrien ausarbeiten soll.

Ende Januar ist Donald Trump im Amt. Man kann davon ausgehen, dass die russische Führung dies bei der Terminfestlegung für die Konferenz in Astana einbezogen hat. Es heißt, dass außer dem Dreierbund - Russland, Türkei, Iran - auch Saudi-Arabien und Katar und eben die USA am Verhandlungstisch sitzen sollen. Die Position der USA unter der neuen Regierung ist relevant für das Gelingen einer politischen Lösung, auch wenn Russland in den letzten Wochen die USA in Syrien ausmanövriert hat.

Verärgerung im Weißen Haus über die Niederlage

Obamas Sanktionen gegen Russland wegen angeblicher Beeinflussung der US-Wahlen kann als Akt der Verärgerung über die Niederlage der US-Politik in Syrien verstanden werden. Auch Frankreich, Großbritannien und Deutschland, wurde eine Lektion in der Syrien-Politik erteilt.

Die Verärgerung über die erfolglose Syrien-Politik des Westens und seiner arabischen Verbündeten ist auch in einem Tagesschau-Kommentar zu spüren. Dort äußert Carsten Kühntopp aus dem ARD-Studio Kairo seine Skepsis darüber, dass die Feuerpause hält. An der Unmöglichkeit, bewaffneten Gruppen auseinanderzuhalten, seien schon frühere Feuerpausen gescheitert. Dem folgt eine interessante Formulierung:

Trotz ideologischer Gegensätze sind sich beispielsweise moderate Rebellen nicht zu schade, vielerorts mit dem Al-Kaida-Ableger Nusra-Front zusammenzuarbeiten.

Carsten Kühntopp

"Sie waren sich nicht zu schade", soll wahrscheinlich heißen, dass die Milizen nicht auf der richtigen moralischen Höhe waren, die Europa von ihnen erwartet hatte. Das ist Schönfärberei und Blindheit gegenüber den eigenen politischen Aktionen und ihre Verantwortung. Auffallend ist, dass diesmal nicht, wie sonst zuvor jedes Mal, Baschar-al-Assad und Russland als mögliche Saboteure der Waffenruhe genannt werden. Nachdem im Zuge der Befreiung von Aleppo die vorher laut hinausgetrommelten Narrative demontiert wurden, schwenkt man sachte auf eine neue Sicht der Dinge.

Ahrar al-Sham als "moderate Opposition"

Auch in Russland zeigt sich ein Umschwenken, was die Opposition betrifft. So reibt man sich erstaunt die Augen, dass nun die Miliz Ahrar al-Sham ganz offiziell auf der Liste des russischen Verteidigungsministeriums unter "moderate Opposition" geführt wird. Im April hatte Russland noch gefordert, dass neben der al-Nusra-Front auch Ahrar al-Sham auf die UN-Liste der terroristischen Gruppen kommen sollte.

Jetzt taucht sogar die Dschihadisten-Miliz Jaish al-Islam auf der Liste des russischen Verteidigungsministeriums derjenigen Gruppen auf, die sich der Waffenruhe angeschlossen haben und als "Formationen der moderaten Opposition" bezeichnet werden. Wie lange hatte sich Moskau gesträubt von einer "moderaten Opposition" zu sprechen und jetzt ist alles anders - der Sieger hat die Deutungshoheit?

Die Erklärung ist naheliegend. Man braucht die Milizen jetzt auf der Seite der Garantiemächte. Der ARD-Korrespondent Carsten Kühntopp ist nicht der einzige, der Skepsis anmeldet. Damit die Waffenruhe hält, brauchen die drei "Garantiemächte" Russland, Türkei und Iran die volle Kontrolle über die bewaffneten Gruppen im Land. Nicht alle Gruppen sind dabei, einige weigern sich.

Die Türkei hat die Rolle der Garantiemacht für die Opposition und sie hat Ahrar al-Sham, zusammen mit Saudi-Arabien, offen unterstützt. Es gab vor Wochen eine offizielle Erklärung von Ahrar al-Sham, dass eine Kooperation mit der Türkei erlaubt sei.

Dies ist auch ein Hinweis darauf, dass es Widerstände innerhalb der Miliz dagegen gab. In jüngster Zeit kamen Hinweise dazu, dass es Spaltungstendenzen in der Miliz gebe. Elijah J. Magnier berichtet von einer Auspaltung in “Ahrar” und “Jaish al-Ahrar". Die letztere Partei der Miliz will sich seinen Informationen zufolge al-Qaida anschließen.

Die Haltung von Ahrar al-Sham zur Waffenruhe sei nicht eindeutig, meldete gestern Aaron Lund, der, um es so zu sagen, einen guten Draht zu oppositionellen Gruppen in Syrien hat. Auch auf dem offiziellen Twiztteraccount der Miliz hieß es gestern, dass man Vorbehalte habe und die Vereinbarung noch nicht unterzeichnet habe.

Dass es Kontakte zwischen Ahrar al-Sham zu al-Qaida gibt, lässt sich beim Long War Journal nachlesen, ganz evident war dies in der engen Allianz mit der al-Nusra-Front. Dennoch wiesen Experten immer wieder darauf hin, dass es ideologische Unterschiede zwischen den "Salafisten" von Ahrar al-Sham und den Dschihadisten von al-Nusra gebe.

Diese Unterschiede spielten keine Rolle, solange es darum ging, Aleppo zurückzuerobern. Da wurde auf das gemeinsame Ziel und die gemeinsame Allianz der Dschihadisten/Salafisten verwiesen, der Sturz der Regierung Baschar al-Assad, die Etablierung eines islamistischen Staates.

Jetzt spielen diese Unterschiede eine Rolle. Die Dschihadisten der al-Nusra-Front und der IS sind als terroristische Gruppen oder Organisationen von der Waffenruhe ausgenommen. Ahrar al-Sham - ganz in Übereinstimmung mit der UN-Resolution nicht. Dass aber - nicht in Übereinstimmung mit UN-Resolutionen zu Syrien - auch die YPG als Terrorgruppe von der Waffenruhe ausgeschlossen ist, zeigt den Einfluss der Türkei in der Sache, bzw. die große Rolle, die ihr zugewiesen wird. (In diesem Sinne kann die Auflistung von Ahrar al-Sham unter "Formations of the moderate opposition" als Zugeständnis an die Türkei verstanden werden, von der sich Russland erhofft, dass es die bewaffneten Milizen tatsächlich kontrollieren kann, spätere Einf. d.V.).