Interview mit russischem Linkspolitiker: "Es gibt eine Mehrheit für einen Wandel"

Kagarlitsky auf einer Demo. Bild: Boris Kagarlitsky

Der bekannte russische Soziologe Boris Kagarlitsky erklärte seine Solidarität mit den nichtzugelassenen Kandidaten für das Moskauer Stadtparlament. Er selbst kandidiert für die Wahl am 8. September auf der Liste der Partei "Gerechtes Russland"

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Der bekannte Soziologe und Hochschullehrer Boris Kagarlitsky kritisiert die harten Polizeieinsätze und Verhaftungen von vorwiegend jungen Moskauern, die am 27. Juli und 3. August auf nichtgenehmigten Demonstrationen gegen die Nichtzulassung von 57 Kandidaten zu den Wahlen für das Moskauer Stadtparlament - Mosgorduma - demonstrierten.

Kagarlitsky kandidiert selbst im westlich des Moskauer Stadtzentrums gelegenen Wahlkreis Dorogomilow auf der Liste der sozialdemokratischen Partei "Gerechtes Russland" an (Fotos vom Wahlkampf).

In seinem Wahlprogramm fordert der Kandidat Lebensmittelläden für Menschen mit niedrigem Einkommen, Mitsprache der Bürger bei der Planung von Parkplätzen und Straßenzuführungen zu Neubauten, eine Ende des Diebstahls von öffentlichen Geldern, die für Parks und öffentliche Feiern bestimmt sind, eine Stopp der Entlassungen von Lehrern, Ärzten und Erziehern, die Abschaffung der Rentenreform und die Erweiterung der Rechte der russischen Regionen.

"Ein ungerechtes Registrierungsverfahren für die unabhängigen Kandidaten"

Wie beurteilen Sie die Proteste wegen der Nichtzulassung von 57 Kandidaten durch die Moskauer Walkommission? Hatten die Kandidaten nicht genug Unterschriften? Hat die Wahlkommission Unterschriften verändert, wie einige Kandidaten sagten?

Boris Kagarlitsky: Die Entscheidung der Moskauer Wahlkommission ist ein Beispiel für politische Willkür. Als man die unabhängigen, oppositionellen Kandidaten von den Wahlen ausschloss, gab es nur drei offiziell registrierte Kandidaten von politischen Parteien, welche sich nicht nur gegen diese Maßnahme aussprachen, sondern auch versuchten, aktiv dagegen zu protestieren: Georgi Fjodorow, Wlad Schukowski und ich. Wir haben eine Protestkundgebung auf dem Sacharow-Prospekt angemeldet. Wir waren die Ersten, die das gemacht haben. Danach haben Vertreter der liberalen Öffentlichkeit für den gleichen Platz eine Kundgebung angemeldet.

Wir hielten es für wichtig, Solidarität mit denen zu zeigen, die man wegen Vorwürfen beim Sammeln der Unterstützer-Unterschriften nicht zur Wahl zugelassen hat, denn wir selbst brauchten keine Unterschriften sammeln (Kandidaten auf Parteilisten waren davon befreit, U.H.). Die Kandidaten befanden sich in ungleicher Lage.

Das Problem hat einen systemischen Charakter. Man muss verstehen, dass die Regeln zur Bildung der Stadt-Duma (Stadtparlament, U.H.) extra so gemacht wurden, um wirklich unabhängige und oppositionelle Kandidaten nicht zuzulassen. Zum einen wurden nur 45 Wahlkreise geschaffen, die viel zu groß sind. Es wurde alles dafür getan, dass es keine Verbindung zwischen den Wählern und den Abgeordneten gibt.

Außerdem mussten die unabhängigen Kandidaten innerhalb eines Monats die Unterschriften von drei Prozent der Einwohner des Bezirks sammeln. Das ist unmöglich. Alles wurde so gemacht, dass es für die Partei "Einiges Russland" - und teilweise auch andere Systemparteien - bequem ist. Durch dieses System wurden alle Unabhängigen ausgeschlossen.

Aber in diesem Jahr lief nicht alles nach Plan. Nach der Rentenreform sank die Popularität der Partei Einiges Russland so stark, dass sich ihre Politiker als Unabhängige zur Wahl stellten. Und auch sie hatten Probleme beim Sammeln von Unterschriften. Im Ergebnis wurden einige Unabhängige als Kandidaten registriert, andere nicht. Das ist absurd. Entweder lehnt man Alle ab oder man registriert Alle. Am besten ist natürlich die zweite Lösung. Die Wähler sind keine Dummköpfe. Sie verstehen es.

War es richtig, die Menschen aufzurufen, sich an einer nichtgenehmigten Demonstration zu beteiligen?

Boris Kagarlitsky: Es ist merkwürdig zu fragen, ob es richtig ist, Menschen auf eine verbotene Kundgebung zu mobilisieren, aber nicht gefragt wird, auf welcher Grundlage solche Kundgebungen verboten werden. Das ist eine vollständige Gesetzlosigkeit. An solchen Kundgebungen teilzunehmen, ist nicht nur rechtmäßig, sondern sogar die Verpflichtung eines Bürgers. Ich bin immer auf solche Kundgebungen gegangen, selbst wenn ich nicht mit den Organisatoren dieser Kundgebungen einverstanden war, weil ich der Meinung bin, dass es eine Bürgerpflicht ist, das Recht des Bürgers auf friedliche Versammlungen zu unterstützen.

In dieser Wahlkampagne musste ich leider eine Ausnahme machen. Denn ich bin Kandidat von "Gerechtes Russland" im 42. Wahlbezirk. Wenn man mich für einen Monat verhaftet, wird es schwer sein, vom Gefängnis aus Wahlkampf zu machen.