Demokratische Institutionen bleiben erhalten, verlieren aber ihre Funktion

Medienmacht ist nicht zu unterschätzen. Bild: Pexels

"Die Trümmer einer Fassadendemokratie": Zur Kritik der herrschenden Meinung und der Kernaufgabe der Medien

Zu den Kernaufgaben der journalistischen Aufklärung zählen die Kritik und Kontrolle politischer Macht, so der Politikwissenschaftler und Journalist Partick Baab. In der Praxis werde die Presse allerdings häufig zum "Apologeten der Mächtigen und zum publizistischen Verteidiger des Status Quo". Statt Macht- und Gewaltverhältnisse aufzuklären, vernebele sie oft die Interessen von Machteliten und werde so zum "Helfer der Gegenaufklärung".

In seinem Buch "Recherchieren - Ein Werkzeugkasten zur Kritik der herrschenden Meinung", erschienen im Westend-Verlag zeigt der Lehrbeauftragte für Journalismus in Berlin, der u.a. als TV-Redakteur beim NDR arbeitete, wie Kritik und Kontrolle von Eliten wieder in den Mittelpunkt der Recherche rücken können. Im Folgenden veröffentlichen wir einen Auszug aus dem Buch:

Der Zerfall bürgerlicher Öffentlichkeit

Als Volontär des Saarländischen Rundfunks (SR) beauftragte mich 1988 der Politikredakteur Martin Geiling mit einer Recherche zur Rolle der unternehmerischen Wirtschaft im Dritten Reich. Das Manuskript diskutierte die Nähe des großen Geldes zur Hitler-Diktatur und die Kontinuität der Machteliten in der Bundesrepublik. Daraus ergab sich eine Kontroverse mit dem damaligen Chefredakteur des SR, Otto Klinkhammer, einem sehr konservativen Journalisten, der mir die Ausstrahlung ausreden wollte.

Wir stritten mehr als eine Stunde im Atrium des Hörfunk-Gebäudes, unter den gespitzten Ohren der Kolleginnen und Kollegen. Schließlich entschied Klinkhammer: "Dann machen Sie es halt! Ich werde meinen Kopf schon hinhalten!"

Wie zu erwarten, ließen die kritischen Reaktionen aus der Wirtschaft nicht lange auf sich warten. Ihm, dem Konservativen, der entschieden anderer Meinung war als ich, wäre es im Traum nicht eingefallen, das Feature aus dem Programm zu nehmen. Dies wäre mit seinem Selbstverständnis als Chefredakteur und seiner Auffassung von Pressefreiheit nicht vereinbar gewesen.

Dass dies aber wie ein Märchen aus einer längst untergegangenen Epoche wirkt, dass dies heute kaum mehr vorstellbar erscheint, zeigt schlaglichtartig den Zerfall bürgerlicher Öffentlichkeit. Letztere hat sich verwandelt von einem Ort der Selbstverständigung über öffentliche Angelegenheiten zu einem Ort vorauseilender Meinungslenkung; von einem Ort der vernunftgeleiteten Debatte zu einem Ort der Zensur und der Denunziation.

Involution der repräsentativen Demokratie

Diese Sklerose demokratischer Öffentlichkeit ist keine eigenständige Krankheit, sondern geht einher mit einer anderen Krise – der Involution der repräsentativen Demokratie. Schon vor mehr als fünf Jahrzehnten hat Johannes Agnoli diesen Prozess der Rückbildung zu einer Fassadendemokratie und damit den Übergang in ein postdemokratisches Stadium analysiert:

Die damit verbundene, allenthalben sich zeigende Involutionstendenz zu einem autoritären Staat rechtsstaatlichen Typus widerspiegelt allgemeinere Disziplinierungstendenzen, die den Gesamtprozess westlicher Gesellschaften kennzeichnen … Der Notstand wird ausgerufen, um den Wohlstand … zu retten, falls ›unvernünftige‹ und das heißt der Sache nach, proletarische und proletarisierte Massen den sozialen Ausgleich durch hohe Forderungen gefährden; oder – die Stilregeln missachtend und aus der Erfahrung, im Vertretungssystem nicht ausreichend vertreten zu sein – … die Frage nach den Produktionsverhältnissen außerparlamentarisch stellen.

Peter Brückner hat damals die Transformation des demokratischen Bewusstseins erörtert. Zwischen demokratischen Institutionen und demokratischem Bewusstsein steht die bürgerliche Öffentlichkeit, die unter dem Einfluss der Machteliten und der kapitalistischen Profitlogik von einem öffentlichen Debattenraum zunehmend zu einer "Propaganda-Matrix", wie Michael Meyen schreibt, regrediert. Hintergrund dieser Regression ist die Krise des modernen Finanzkapitalismus.

Die globale Finanzkrise ab 2007 hat gezeigt, wie fragil dieser Finanzkapitalismus ist. Ausgelöst überwiegend durch spekulativ aufgeblähte Immobilienmärkte und überdimensionierte Börsenwetten, konnte das Bankensystem nur durch staatliche Interventionen gerettet werden. Statt die Banken in den Konkurs und die verantwortlichen Manager ins Gefängnis zu schicken, wurden die Lasten der Finanzkrise den Steuerzahlern aufgebürdet. Inzwischen pumpen die Zentralbanken massiv Geld ins Bankensystem, ohne dass es dadurch gelingen würde, die Wirtschaft wieder anzukurbeln.

Sie stecken in einem Dilemma, denn dem Markt die Liquidität wieder zu entziehen erscheint unmöglich, so Joscha Wullweber, "sonst kommt es sofort zu einer Finanzkrise. Dieser Teufelskreis macht den Zentralbankkapitalismus aus. Er ist völlig instabil. Weil die Regierungen nicht investieren, sind die Zentralbanken gezwungen, massiv Liquidität bereitzustellen. Diese Geldmittel fließen aber nicht in die produktive Wirtschaft, sondern in Aktienrückkäufe und Finanzspekulation. Sehen wir uns den Aktienmarkt an: eine gigantische Blase, die irgendwann zusammenbrechen wird. Und wenn die Zentralbanken damit aufhören, bricht das System sofort zusammen."

Auch aus diesem Grunde werden die staatlichen Repressionsapparate sukzessive ausgebaut. Im Krisenfalle soll ein möglicher Widerstand der Lohnabhängigen gebrochen werden können. Seit Ende der Siebzigerjahre unterwirft die neoliberale Politik der Privatisierungen, der Sozialkürzungen, der Steuersenkungen für Reiche und der Liberalisierung der Märkte immer weitere Teile der Gesellschaft der Profitlogik und entzieht sie der öffentlichen Kontrolle.

Nach den Anschlägen auf das World Trade Center am 11. September 2001 haben nahezu alle westlichen Staaten ihre Sicherheits- und Geheimdienstapparate hochgerüstet und die Überwachung der Bevölkerung quasi-totalitär ausgebaut. Treibendes Element dieser Politik ist weniger die viel beschworene terroristische Bedrohung als vielmehr die Befürchtung, dass die abhängig Beschäftigten den "Giftcocktail aus Sparpolitik, Freihandel, Schuldknechtschaft und schlecht bezahlten prekarisierten Arbeitsplätzen, den der herrschende finanzmarktgetriebene Kapitalismus vor allem anderen serviert", nicht mehr schlucken wollen und ihren Protest gegen die herrschenden Machteliten richten.

Die Corona-Krise verstärkt die autoritären Tendenzen des Neoliberalismus. Regierungen und Internet-Konzerne betreiben eine schleichende Enteignung des Mittelstandes und der kleinen Selbstständigen. Im Zuge der Covid-19-Restriktionen geraten viele Klein- und Familienbetriebe in die Insolvenz und werden so im Interesse globaler Akteure und proprietärer Märkte beseitigt. Im Ergebnis kann dies als ein Vernichtungskrieg gegen den Mittelstand betrachtet werden. Jetzt wird die Enteignung der Unterschichten durch die Enteignung von Teilen der bürgerlichen Klasse ergänzt.

Von Beginn der Pandemie an war klar, dass Corona soziale Ungleichheiten verstärkt. Das Heer der Frustrierten und ihrer Existenz Beraubten, die Deklassierten aller Klassen, sie alle werden zur Massenbasis einer neuen nationalreaktionären politischen Kraft. In dem Maße, in dem das Virus die soziale Spaltung vorantreibt, schafft es auch den Nährboden für neuen Rechtsextremismus und neue autoritäre staatliche Maßnahmen. Gleichzeitig befördert die Corona-Krise die Involution, sprich die schleichende Rückbildung demokratischer Institutionen in vor- und antidemokratische Formen.

Viele Grundrechte wie das Versammlungs- und Demonstrationsrecht werden auf dem Verordnungswege außer Kraft gesetzt. Regiert wird unter Umgehung der Parlamente mittels Ausnahmeregelungen und Notverordnungen. Durch Kontaktverbote werden Kommunikation und Kollektivität verhindert, Orte der Zusammenkunft gibt es nicht mehr. Homeoffice und Homeschooling vereinzeln die Menschen und verhindern auf diese Weise die Einübung von Widerstand.

Henry Giroux spricht von einer profitgetriebenen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, der "eine Form systemischer Gewalt immanent ist, die den Planeten, jeden Sinn für das Gemeinwohl und die Demokratie zerstört; und diese Gewalt wird nicht mehr durch eine Ideologie, sondern durch das Aufkommen des strafenden Staates gesteuert – in dem zunehmend alles Mögliche kriminalisiert wird, weil es eine Bedrohung für die Finanzelite und deren Herrschaft über das Land darstellt … Der Neoliberalismus speist unser Leben mit Gewalt und unsere Politik mit Furcht."

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