Verfassungsgericht: So durfte Angela Merkel die AfD nicht attackieren

Angela Merkel (CDU) wollte eine klare Abgrenzung ihrer Partei nach rechts. Foto: FNDE / CC-BY-SA-4.0

Laut Richtern in Karlsruhe hat die Altkanzlerin den Anspruch der Rechten auf Chancengleichheit verletzt. Es gibt allerdings ein Sondervotum.

Durfte Altbundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) "implizit ein insgesamt negatives Werturteil über die Koalitions- und Kooperationsfähigkeit" der AfD im demokratischen Gemeinwesen fällen? – Nein, hat an diesem Mittwoch das Bundesverfassungsgericht entschieden.

Mit ihren Äußerungen zur Ministerpräsidenten-Wahl in Thüringen vom 5. Februar 2020 habe die damalige Kanzlerin das Recht der AfD auf Chancengleichheit der Parteien verletzt, heißt es in der Urteilsbegründung.

Der Thüringer Landtag hatte damals FDP-Politiker Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten gewählt, obwohl dessen Partei bei der Wahl im Vorjahr nur fünf Prozent der Stimmen erhalten hatte. Die Landtagsfraktionen von FDP, CDU und AfD hatten damals im dritten Wahlgang gemeinsam für Kemmerich votiert, um eine zweite Amtszeit von Bodo Ramelow (Die Linke) zu verhindern.

Antikommunistisches Manöver ohne Kommunisten

Der Hintergrund war schlicht panischer Antikommunismus, obwohl Ramelow schon in seiner ersten Amtszeit eher als staatstragender Sozialdemokrat aufgetreten war: Der CDU-Rechtsaußen und ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen hatte zur Wahl Kemmerichs erklärt: "Hauptsache, die Sozialisten sind weg."

Die Kanzlerin dagegen hatte sich schockiert darüber gezeigt, dass auch ihre eigenen Parteifreunde angesichts der halluzinierten roten Gefahr bereit waren, mit der ultrarechten AfD zu kooperieren.

Der Tag der Kemmerich-Wahl mit AfD- und CDU-Stimmen sei "ein schlechter Tag für die Demokratie" gewesen, hatte Merkel seinerzeit erklärt; der Vorgang sei "unverzeihlich", das Ergebnis müsse rückgängig gemacht werden. Das wurde es durch Kemmerichs Rücktritt noch im Februar 2020.

Mit ihren damaligen Aussagen habe Merkel "deutlich gemacht, dass sie die Beteiligung der Antragstellerin an der Bildung parlamentarischer Mehrheiten generell als demokratieschädlich erachtet, und implizit ein insgesamt negatives Werturteil über die Koalitions- und Kooperationsfähigkeit der Antragstellerin im demokratischen Gemeinwesen gefällt", erklärte nun das höchste deutsche Gericht in Karlsruhe.

Es gab damit einer Klage der AfD statt, die durch Merkels Äußerungen ihr Recht auf Chancengleichheit der Parteien gemäß Artikel 21, Absatz 1 im Grundgesetz verletzt gesehen hatte.

Bundeskanzlerin Merkel hat mit der getätigten Äußerung in amtlicher Funktion die Antragstellerin negativ qualifiziert und damit in einseitiger Weise auf den Wettbewerb der politischen Parteien eingewirkt.


Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Juni 2022 / 2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20

Sondervotum: Ressourcennutzungsverbot, kein Äußerungsverbot

Das Urteil war allerdings nicht einstimmig – ein Sondervotum kam von der Verfassungsrichterin Prof. Dr. Astrid Wallrabenstein.

Geht man mit dem Senat davon aus, dass für die – selbstdarstellende – Öffentlichkeitsarbeit der Regierung Neutralitätspflichten gelten, müsste ein genereller Maßstab für alle Äußerungen von Regierungsmitgliedern format- und situationsbezogen präzisiert werden. Oder er müsste so gefasst sein, dass die Kontextbedingungen einer Äußerung berücksichtigt werden können.

Der Senat wählt mit dem Trennungskonzept einen anderen Weg. Er unterwirft regierungsamtliche Äußerungen engen Neutralitätsvorgaben und verweist die Auseinandersetzung mit politischen Parteien auf den Bereich "außerhalb der amtlichen Funktion". (…)

Das berechtigte Anliegen, das der Senat mit dieser Trennung verfolgt, findet sich nicht auf der Seite der Amtsausübung des Regierungsmitglieds, sondern auf der Seite seiner parteipolitischen Betätigung. Bei letzterer soll es nicht auf die spezifischen Möglichkeiten und Mittel des Ministeramtes zurückgreifen dürfen. Es geht also nicht um ein inhaltliches Äußerungsverbot, sondern um ein Ressourcennutzungsverbot.


Prof. Dr. Astrid Wallrabenstein

Damit lasse sich eine "exzessive Öffentlichkeitsarbeit der Regierung im Wahlkampf"-- also die Nutzung von Regierungsressourcen für parteispezifische Zwecke – unterbinden und der politische Wettbewerb sichern, so Wallrabenstein.

Allerdings sei ein solches Verbot eben nur für die Nutzung wirtschaftlicher Ressourcen plausibel, um zu verhindern, dass Regierungsparteien im Wahlkampf darauf zurückgreifen und sich eigene Aufwendungen sparen. "Dies und nicht der Inhalt der – selbstdarstellenden – Öffentlichkeitsarbeit kann den Parteienwettbewerb verzerren", betont die Richterin.

Der Juraprofessor Marius Raabe schloss sich in einem Tweet ihrer Auffassung an:

Die Rechtsprechung der Senatsmehrheit des BVerfG verbeamtet die Regierung und befördert damit nicht eine lebendige Demokratie.


Prof. Dr. Marius Raabe

Der justizpolitische Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Karlsruhe, Wolfgang Janisch, nannte das Urteil gegen Merkel in einem Kommentar "lebensfremd" – die damalige Kanzlerin habe nur ausgesprochen, "was jeder Demokrat dachte".

Die Bild sieht unterdessen in dem Gerichtsurteil ein notwendiges "Stoppschild":

In der föderalen Ordnung der Bundesrepublik haben die Vertreter der Verfassungsorgane einander keine Vorschriften zu machen, die Kanzlerin hat sogar eine Neutralitätspflicht gegenüber den im Bundesrat vertretenen Bundesländern.


Ralf Schuler, Bild

Die AfD und ihr Umfeld jubeln. Verfassungsbruch sei "Merkels Politikstil" gewesen, twitterte Beatrix von Storch und spielte damit vermutlich auf eine gescheiterte Klage der AfD gegen Merkels Flüchtlingspolitik an. Das heutige Urteil sei ein "erster Schritt", so von Storch. Die "Ära" Merkel müsse rechtlich und politisch aufgearbeitet werden. "Sie hinterlässt ein kaputtes Land."

Der Thüringer AfD-Politiker Björn Höcke, dessen Landesverband der Verfassungsschutz als "erwiesen rechtsextrem" einstuft, befand an diesem Mittwoch, Merkels Handeln im Frühjahr 2020 habe das Vertrauen "der Bürger" in staatliche Institutionen und Amtsträger "dramatisch sinken" lassen.

Unabhängig davon, ob dieses Vertrauen tatsächlich und – falls ja – nicht aus völlig anderen Gründen über einen längeren Zeitraum gesunken ist, wirft das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch die Frage auf, inwieweit die gleichen Maßstäbe gelten, wenn mal wieder die Partei Die Linke als nicht koalitions- und kooperationsfähig dargestellt wird, weil deren Mitglieder und Mandatsträger sich nicht vorbehaltlos zur Nato bekennen wollen.

Diese Ansage gab es von Spitzenpolitikern der Grünen, die inzwischen Regierungsmitglieder sind, bereits im Bundestagswahlkampf von 2021.

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