Ukraine-Krieg: Warten auf die Offensive

Ukrainische Soldaten bei einem Gefangenenaustausch am Donnerstag. Foto: Ministry of Internal Affairs of Ukraine / CC BY 4.0

Über die kommende Offensive der Ukrainer wird viel gestritten – nur nicht darüber, dass sie kommen wird. Worin Experten Kreml-Medien widersprechen

Die bevorstehende Offensive der Ukrainer gegen russische Invasionstruppen ist weiterhin Thema Nummer eins, was das Geschehen an der Front betrifft. Zu Verschiebungen der Kontaktlinie der Armee kam es seit der Eroberung von Bachmut vor wenigen Tagen auch kaum.

Kreml-Experte spricht von "Zombifizierung" in der Ukraine

Mit der Offensive rechnet auch die russische Seite. So berichtet in der regierungsnahen Moskauer Zeitung Nesawisimaja Gaseta Sergej Perschutkin als Mitglied der Akademie der Militärwissenschaften von seiner Erwartung, dass es bald so weit sei.

Er hält zwar die ukrainischen Offensivkräfte für "nicht ausreichend" für einen umfassenden Vorstoß, glaubt aber, der ukrainische Angriff sei dennoch "sehr wahrscheinlich".

Interessanterweise bestreitet der kremlnahe Experte nicht den Verteidigungswillen der ukrainischen Bevölkerung - anders als die russische Führung zu Beginn des Krieges. Entsprechende Umfragen werden von ihm zitiert und er zieht ihr Ergebnis nicht in Zweifel, glaubt sogar an das Vertrauen der Ukrainer in die eigenen Streitkräfte.

Die Phase der Unterschätzung des ukrainischen Gegners durch russische Fachleute ist vorbei, auch wenn Propagandisten etwas anderes suggerieren.

Als Ursache des Widerstandswillens betrachtet Perschutkin aber nicht die von Russland gestartete Invasion, sondern eine, wie er es nennt, "Zombifizierung oder ukrainischen öffentlichen Meinung durch westliche und liberale Ideen".

Dennoch ist es bemerkenswert, dass der Militärwissenschaftler und Soziologe aus dem Kreml-Umfeld Darstellungen von Regierungsmedien widerspricht, die Ukraine sei so "sturmreif" wie Nazideutschland im Jahr 1945.

Von der Frühjahrs- zur Herbstoffensive?

Ob der ukrainische Generalangriff wirklich eine "Frühjahrsoffensive" wird, darf angesichts eines Blicks auf den Kalender bezweifelt werden. Selbst Fachleute, die von einem Beginn der Vorbereitungen im Mai ausgehen, sehen die aktive Phase des versuchten Vormarsches erst im Sommer.

Der österreichische Militärstratege Walter Feichtinger glaubt sogar in der Zeitung Der Standard an ein Zeitfenster bis in den Herbst hinein. Im Gegensatz zu seinem russischen Kollegen glaubt er an die Offensivkraft der Kiewer Truppen, nur nicht in dem Umfang "den sich die Ukraine selbst vorstellt".

Markus Reisner von der Militärakademie in der Wiener Neustadt, aktuell nicht nur in Österreich omnipräsenter Medien-Militäranalyst, sieht die Ukrainer in der Zwickmühle zwischen westlichen Offensiverwartungen in den nächsten Wochen und der Tatsache, dass die gelieferten westlichen Waffen noch lange nicht alle an der Front angekommen sind.

Wie sich die Lage auch entwickelt, wird man von der tatsächlich laufenden Offensive erst durch Berichte von Kampfhandlungen vor Ort erfahren, da sich Kiew bei allen operativen Maßnahmen so wenig wie möglich in die Karten schauen lässt.

Dass die russische Seite die Offensive auf jeden Fall erwartet, zeigen die großen Investitionen in Defensivmaßnahmen. Laut der exilrussischen Onlinezeitung Meduza haben die russischen Truppen inzwischen 1.500 Kilometer Befestigungsanlagen vorbereitet, darunter sogar an den Stränden der Krim.

Am stärksten befestigt sei dabei die immer wieder prognostizierte Vorstoßregion Saporoschje, wo die Ukrainer im Falle eines Erfolgs das von Russland besetzte Gebiet in zwei Teile teilen könnten.

Belgorod als Scheitern russischer Verteidigungslinien

Solche Verteidigungslinien gibt es mittlerweile auch im russischen Mutterland, wo es an ukrainisch beherrschtes Gebiet grenzt. Ihre erste Bewährungsprobe ist inzwischen gescheitert, bei dem überfallartigen Vorstoß exilrussischer, aber zur ukrainischen Armee gehöriger Kämpfer in die russische Region Belgorod.

Dieser hatte von Anfang an nicht das Ziel einer dauerhaften Besetzung und nach etwa 36 Stunden Einsatz zogen sich die Soldaten unter Verlusten, die sie selbst mit zwei und die russische Seite mit 70 Toten angibt, wieder in Richtung Ukraine zurück.

Bei den Soldaten handelte es sich mehrheitlich um Rechtsextremisten des neofaschistischen "Russischen Freiwilligenkorps auf ukrainischer Seite, daneben um Mitglieder der "Legion Freiheit Russlands", einer Untereinheit der Internationalen Fremdenlegion der Ukrainer.

Entscheidend ist jedoch, dass sie die Befestigungsanlagen an der Grenze mühelos überwanden und schnell sechs Kilometer ins Hinterland vorstießen. Ein Angreifer berichtet der Novaya Gazeta Europa, dass die russischen Truppen vom Grenzübergang schon nach kurzem Feuergefecht flüchteten. Dies sieht der russische Journalist und Militärexperte der Forschungsstelle Osteuropa der Uni Bremen als Beleg für eine fehlende Funktionsfähigkeit der Grenzsperren. Er glaubt, dass auch Gelder, die für Befestigungen gedacht waren, in der Korruption der örtlichen Verwaltung versickerten.

Einen Hinweis auf den Hauptgrund für das örtliche Versagen der russischen Grenzverteidigung liefern die oppositionelle russische Onlinezeitung 7x7 in einem Artikel. Dort seien Wehrpflichtige ohne ausreichende Ausbildung eingesetzt gewesen, berichtet sie unter Berufung auf Verwandte der eingesetzten Soldaten.

"Sie wurden buchstäblich zwei Wochen nach der Eidableistung aufs Schlachtfeld geschickt" zitiert die Zeitung die Mutter eines Wehrpflichtigen. Deswegen habe es von den betroffenen Familien bereits Sammelbeschwerden beim Russischen Verteidigungsministerium gegeben.

Die einzige positive Nachricht aus dem Kriegsgebiet aktuell ist die über einen Gefangenenaustausch am Donnerstag. 106 gefangene ukrainische Soldaten kamen dadurch frei. Man darf davon ausgehen, dass die Zahl der freigelassenen Russen ähnlich hoch war. Es handelte sich um Söldner der Militärfirma PMC Wagner des kremlnahen Oligarch Jewgeni Prigoschin.