15-Minuten-Städte: "Klima-Lockdown" oder Lebensqualitäts-Booster?

Seite 3: Die 15-Minuten-Stadt als Antwort auf die Corona-Krise

Die Idee der 15-Minuten-Städte wäre womöglich im Lärm der Zukunftsmusik untergegangen, wenn Moreno nicht Berater der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo geworden wäre. Und wenn es die Corona-Krise nicht gegeben hätte. Moreno spricht 2021 nicht umsonst von "Post-Pandemic Cities".

Die Transformation der Stadt der Liebe zur Viertelstunden-Stadt war 2020 fester Bestandteil des Programms von Anne Hidalgo bei der Pariser Bürgermeisterwahl im März. Die Kandidatin der Sozialisten und spätere Macron-Herausfordererin arbeitete eng mit dem Universitätsprofessor Moreno zusammen und teilte dessen Vision einer autofreien Zukunft. Nicht zufällig, übrigens. Aber dazu später mehr.

Dann kam Corona, und die Vision nahm plötzlich konkrete Formen an.

Städte, die (ob nun bewusst oder unbewusst) die Leitlinien der Viertelstunden-Stadt beherzigten, konnten die Krise besser meistern. Das sollten zumindest Auswertungen von Bewegungsdaten wie die des Fußgängerstrom-Analysetools MyTraffic und des Städteverbunds Villes de France nahelegen.

Dieser Logik folgten nicht zuletzt auch die strikten Begrenzungen des Bewegungsradius der französischen Bürger im Lockdown, die die Polizisten penibel kontrollierten.

Dass sich vor allem kleine urbane Einheiten als "resilient" gegenüber den beispiellosen Einschränkungen behaupten konnten, bestätigte den Kurs Morenos und der Stadt Paris: "Die Viertelstunden-Stadt als Antwort auf die Gesundheitskrise", titelte die städtische Website im Mai 2022. Das Modell sollte Schule machen.

Vier Monate nach der Pariser Bürgermeisterwahl erklärt die C40 Cities Climate Leadership Group das Pariser Modell zum weltweiten Vorbild. Das Bündnis versammelt mehr als 90 Städte auf der ganzen Welt in dem Vorhaben, die städtebauliche Entwicklung vor allem unter dem Aspekt der Klimafreundlichkeit, aber auch des gesundheitlichen Wohlergehens und der ökonomischen Perspektiven der Bewohner zu fördern.

Der Artikel vom Juli 2020 stellt das 15-Minuten-Modell in den Dienst der Build-Back-Better-Agenda der US-Demokraten. Zu den Förderern und Partnern der C40 zählen wenig verwunderlich deshalb unter anderen Google, George Soros’ Open Society Foundations und Bloomberg Philanthropies, aber auch FedEx, American Express, der in der Corona-Krise stark engagierte. Wellcome Trust sowie die Childrens' Investment Fund Foundation (CIFF), bekannt für "venture philanthropy for global development" und als ehemalige Arbeitsstelle von UK-Premier Rishi Sunak.

Vorsitzender der C40 ist Londons Bürgermeister Sadiq Khan (Labour). Gegründet wurde das Bündnis 2005 ebenfalls von einem Bürgermeister Londons, Ken Livingstone (Labour), der 1999 noch mit dem Satz "Ich hasse Autos" polarisierte.

2006 tut sich Livingstones C20 mit dem ehemaligen US-Präsidenten und Demokraten Bill Clinton zusammen, um weitere Städte für die klimapolitische Transformation zu gewinnen. Die Clinton Climate Initiative, eine Ausgründung der umstrittenen Clinton Foundation, wirkt fortan als Partner der C40.

Net Zero: Klimaneutraler Stadtumbau von New York bis Oxford

Die C40 verbindet Anne Hidalgo mit Carlos Moreno. Der Stadtplaner begrüßte bereits 2016 in einem Artikel von La Tribune Hidalgos Kandidatur, ist bei zahlreichen Veranstaltungen gemeinsam mit Vertretern des Städte-Netzwerks aufgetreten und empfiehlt die C40 auf seiner Homepage. Hidalgo wiederum sitzt ihrerseits mindestens seit 2015 im 15-Minuten-Boot.

In jenem Jahr findet die UN-Klimakonferenz in Paris statt, auf der per völkerrechtlich (mutmaßlich) bindendem Vertrag (sog. Weltklimaabkommen) unter anderem das viel beschriebene Zwei-Grad-Ziel sowie die Null-Emissionsziele (Net Zero) für 2050 festgelegt werden. Hidalgo war damals Gastgeberin des sogenannten Climate Summit for Local Leaders, gemeinsam mit Michael Bloomberg.

Der ehemalige Bürgermeister von New York City, erklärte Philanthrop und Präsidentschaftsanwärter für die Demokraten im Wahljahr 2020 ist nicht nur Förderer und Vorstandsmitglied der C40, Ko-Vorsitzender der mit (Zentral-)Bankern bestückten Glasgow Alliance for Net Zero (GFANZ) sowie Spezialgesandter des UN-Generalsekretärs für Klima-Ambitionen und -Lösungen.

Das Konzept der 15-Minuten-Stadt hat seit der "nouvelle vague" in Paris 2020 stetig Nachahmer hinzugewonnen. Informationen der Deutschen Welle zufolge sind weltweit 16 Städte bereits darauf und daran, das Modell der klimafreundlichen Planstadt umzusetzen.

Waren die Smart-City-Metropolen Singapur und das während Corona in totalitären Verruf geratene Shanghai bereits 2016 unter den "early movers", verpflichten sich seit 2020 auch immer mehr europäische Städte dazu.

Auf der Liste der Musterbeispiele, die C40 im Januar 2022 anführt, finden sich neben der französischen Hauptstadt auch Barcelona, Buenos Aires, Melbourne, Bogotá, Portland und Mailand.

Und auch in Deutschland werden zunehmend Pläne für die 15-Minuten-Stadt entwickelt. Wie deutlich geworden sein dürfte, sind diese Pläne nicht von Maßnahmen zur Erreichung der Emissionsziele und der zumindest teilweisen Verbannung von Privatfahrzeugen aus Innenstädten zu trennen.

So koppeln die Kommunalräte der britischen Stadt Oxford und der Grafschaft Oxfordshire – jeweils geführt von einer "Ampel"-Regierung aus Grünen, den Liberalen Demokraten und der Labour-Partei – das 15-Minuten-Konzept an sogenannte Low Emmission Zones (LEZ) beziehungsweise Zero Emission Zones (ZEZ), zu denen seit Ende Februar 2023 ein Pilotprojekt läuft. In London setzt Bürgermeister und C40-Vorsitzender Khan mit den Ultra Low Emission Zones (ULEZ) auf ein ähnliches Konzept.

Auch das eingangs genannte Papier der Hamburger Grünen sieht eine solche "Umverteilung der Verkehrsflächen" vor.

Auf diese Kopplung von Stadtplanung und Emissionszielen gründet sich die besonders in Großbritannien brodelnde Kontroverse der vergangenen Monate, die eine gewaltige Welle von Faktenchecks – in ihrer Intensität beinahe an die Corona-Krise erinnernd – zu dirigieren versuchte.