15-Minuten-Städte: "Klima-Lockdown" oder Lebensqualitäts-Booster?

Seite 4: Fake News und zweifelhafte Faktenchecks

Das Konzept von ULEZ und ZEZ hat seinen Ursprung im Electronic-Road-Pricing-System der Smart City Singapur. Die Durchfahrt durch bestimmte (stadtnahe) Zonen ist zu bestimmten Zeiten ausschließlich (nach EU-Standards) emissionsarmen oder auch emissionslosen Fahrzeugen vorbehalten. Verstöße werden von Kameras, die Nummernschilder scannen, aufgezeichnet und mit einer Geldbuße (15 Pfund) geahndet.

Oxford plant darüber hinaus für 2024 den Einsatz sogenannter traffic filter, die nach einem ähnlichen Prinzip funktionieren. Bewohner der Stadt und der unmittelbaren Umgebung können sich um eine Erlaubnis bewerben, die ihnen bis zu 100-Mal im Jahr dennoch die Durchfahrt gestattet. Personen, die etwa arbeitsbedingt öfter das Stadtgebiet durchqueren müssen, empfehlen die Kommunalräte, die Ringstraßen zu benutzen.

Das sorgte für Empörung unter Bewohnern, Smart-City-Kritikern und (besonders) konservativen Politikern. Nicht nur, weil ihrer Meinung nach das Argument der Emissionsersparnis damit hinfällig sei, sondern auch weil sie die Räte verdächtigten, wichtige Informationen vorenthalten zu haben, die die versprochene Verkehrsentlastung in Frage stellten.

In den sozialen Medien überschlagen sich unter dem Begriff "15-Minute-City" die Ereignisse und Kommentare. Dabei kursieren allerlei abstruse Fake-News und Falschdarstellungen, beispielsweise Videos von angeblichen Sensoren, die bei "unbefugten" Personen automatisch Kühlregale im Supermarkt verschließen.

Auch verachtenswerte Vergleiche der Viertelstunden-Städte mit Konzentrationslagern haben zeitweise die Runde gemacht. Hoch im Kurs war auch der Begriff "Klima-Lockdown" – die Vorstellung, dass die Bürger ihre 15-Minuten-Städte nur noch in Ausnahmefällen verlassen dürfen.

Unter den zahlreichen Faktencheckern, die angetreten sind, "Verschwörungstheorien" und Falschdarstellungen zu widerlegen (darunter die BBC, der Guardian, die New York Times, die Washington Post und weitere namhafte internationale Blätter) widmete sich auch die Nachrichtenagentur AP dem Phänomen des "Klima-Lockdowns".

Der Faktencheck der AP ist deshalb erwähnenswert, weil die Agentur im vergangenen Jahr ihre Unterstützung durch die Stiftungen der Familien Murdoch, Ford, Hewlett und Rockefeller im Feld der "Klimaberichterstattung" bekanntgab. Deshalb müssen die Faktenchecks aber natürlich nicht gefärbt oder gar falsch sein.

Wenn allerdings die Aussage vom Chef des Senseable City Laboratory am Bostoner MIT und Mitglied des Global Future Council on Cities and Urbanization des WEF, Carlo Ratti, genügt, um (vermeintliche) Falschbehauptungen zu widerlegen, stellt sich für manche möglicherweise die Frage nach der journalistischen Integrität.

Als (relativ) frisches Mitglied beim internationalen Faktencheck-Netzwerk des US-amerikanischen Poynter-Instituts (IFCN) durfte auch ein Beitrag des Bayerischen Rundfunks zum Thema nicht fehlen, in dem seit den zweifelhaften Faktenchecks aus der Corona-Zeit wieder einmal von "Verschwörungsideologen" die Rede war. Carlos Moreno höchstpersönlich darf darin widerlegen, dass 15-Minuten-Städte nicht dazu da sind, um Menschen "in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken".

Sind die Bedenken der "Verschwörungsideologen" also völlig unbegründet, wie es die regelmäßig zitierte österreichische Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl im BR-Faktencheck suggeriert?

Jedenfalls muss man nicht lange suchen, um Kritik am Konzept der 15-Minuten-Städte zu finden, die aus berufenem Munde stammt.

"PR von Privilegierten" oder doch Vorbote für den "Klima-Lockdown"?

So warnt der italienische Professor Marco Cremaschi, der in Paris und Mailand Stadtplanung unterrichtet, dass Morenos "Trugbild" den historischen Fehler der Funktionalisten um Le Corbusier wiederholen könnte: die Stadt als "totale Infrastruktur" zu verdinglichen.

Hinter Morenos Anspruch, "die Nachfrage der Bewohner näher an das Angebot zu bringen", vermutet Cremaschi die Angleichung an die Ansprüche von Big Tech: Google, Amazon, Facebook, Apple (frz.: GAFA)4:

Es gibt keinen generischen Bürger, sondern mehrere Stadtbewohner […] die 15-Minuten-Stadt vereint scheinbar Einzelpersonen und Verbraucher in einem freien Markt, in einer flexiblen Arena, die problemlos gegensätzliche ideologische Positionen unterbringt. Reduzieren wir die Stadt dann nicht auf eine Dienstleistungsplattform?

Marco Cremaschi

Die Fragen, die sich aus städtebaulicher und verwaltungstechnischer Sicht stellen, können hier unmöglich beantwortet werden. Jedenfalls kündigte Moreno 2020 bereits an, dass die 15-Minuten-Städte nach einem "neuen Wirtschaftsmodell" verlangen. Das mutmaßlich planwirtschaftliche Vorgehen, nach dem sein Konzept verlangt, hält Cremaschi nicht für realisierbar.

Das sieht im Übrigen auch der australische Stadtplaner Tony Matthews vom australischen Cities Research Institute in Brisbane so5:

Eine Verdoppelung von Dienstleistungen wäre in einem Umfang erforderlich, der weit über das derzeitige Angebot hinausgeht. Die Markteffizienz würde gestört, vielleicht sogar verloren gehen, so dass viele private Dienstleistungsanbieter nicht mitmachen würden.

Tony Matthews

Sowohl Cremaschi als auch Matthews stimmen wiederum dem renommierten französischen Stadtplaner Pierre Veltz zu, dass die 15-Minuten-Stadt eine Vision Privilegierter ist – oder, wie Veltz formuliert: "Eine Bobo-Utopie, unzugänglich für Putzfrauen in Roissy oder Lageristen in Rungis". Neben der Lebensrealität der Arbeiterklasse bleibe außerdem die "segregationistische Logik des Grundstücksmarktes" außen vor.

Dem schließt sich auch der bekannte französische Stadtplaner Thierry Paquot vom Institut d’urbanisme de Paris im französischen Magazin Esprit an6:

Die Viertelstunden-Stadt ist PR! Eine Sache der Privilegierten, wie die 24/7-Stadt, die vergisst, dass sie, um Tag und Nacht zu funktionieren, Arbeiter im Laderaum braucht.

Thierry Paquot

Neben den Stadtplaner-Koryphäen hat der Physiker James Woudhysen, Gastprofessor für Innovation und Prognosen an der Londoner South Bank University, im Magazin spiked wohl eine der vernichtendsten Kritiken von akademischer Seite vorgetragen7:

Was als Wiederbelebung von Großbritanniens grünem und schönem Land dargestellt wird, ist in Wirklichkeit eine Zwangsmaßnahme, um Autofahrer an die Leine zu legen. Diejenigen, die ein Auto haben, werden zählen müssen, wie oft sie es benutzen, um die Stadt zu durchqueren. Es wird Genehmigungen und Strafen geben und mit ziemlicher Sicherheit wird die Überwachung allgegenwärtig sein. [...] Es ist nicht das erste Mal und auch nicht das letzte Mal, dass die "Net Zero"-Agenda viel zu viel Inspiration aus jenen illiberalen Tagen des Lockdowns gezogen hat.

James Woudhysen

Ist es vielleicht doch noch zu früh, den "Klima-Lockdown" als Verschwörungstheorie aus dem Diskurs zu verbannen – zumal er von politischen Figuren wie Karl Lauterbach ganz selbstverständlich als Szenario vorgezeichnet wurde?