Abschied von Wolfgang Schäuble: Der Wille zum Mächtle

In Nachrufen zum Teil überschätzt: Wolfgang Schäuble. Foto: Michael von der Lohe / CC-BY-2.5

Einer der letzten "großen" Politiker der Bonner Republik wird heute beigesetzt. Warum er diese Größe nie hatte – und wofür er im Kern stand. Ein Kommentar.

Wolfgang Schäuble wurde in den letzten Tagen ausgiebig "kritisch" gewürdigt, anders gesagt, man überschlug sich in Lobeshymnen. Dabei wird dem mehrfachen Ex-Bundesminister mit CDU-Parteibuch eine Größe attestiert, die er nie hatte. Seine Auffassung von Demokratie und Parlamentarismus war – wenn auch praxiserprobt – bestürzend kleingeistig.

Auch die dunklen Flecken der "Schwarzen Kassen" blieben in Nachrufen nicht unerwähnt. So auch auf den Seiten von Telepolis. Koffer mit Geld vom Waffenhändler, "verlorene" Kalender, kuriose Erinnerungslücken und am Ende waren immer seine Untergebenen Schuld.

So eierte Schäuble aus der CDU-Spendenaffäre und es gehörte einfach zum Stil dieses Politikers, bei dem Regieren sich immer ein wenig wie Herrschen anfühlte.

Brandschneisen der "Schwarzen Null"

International gab es auch manche Kritik. Yannis Varoufakis macht Wolfgang Schäuble dafür verantwortlich, dass sich Deutschland heute "deindustrialisiert" und Europa in der weltweiten Bedeutungslosigkeit versinkt.

Der ehemalige griechische Finanzminister ist also immer noch sauer, dass Schäuble mit der medialen Befeuerung der "Euro-Krise" Griechenland zu Zugeständnissen gezwungen hat, um ein besseres "Investitionsklima" zu schaffen. Anders gesagt, die Griechen mussten ihr Tafelsilber unter anderem an Deutschland verscherbeln.

Angeblich sprach man eine Weile in Griechenland bei Waldbränden von den "Schäuble-Opfern", weil das aufgezwungene Spardiktat die griechischen Feuerwehren hat schrumpfen lassen und die Liberalisierung der Bebauungspläne viele in Griechenland zur Brandstiftung inspirierte.

Solche Zusammenhänge sind allerdings nie eindeutig (weder hat Schäuble die Griechen zur Verschuldung gezwungen, noch die Brände selbst gelegt). Dass die "schwarze Null" töten kann, wenn es ums Einsparen bei sozialen Einrichtungen und Sicherheitsmaßnahmen sowie im Gesundheitssystem geht, ist hingegen vielfach wohldokumentiert.

Verantworung für Deutschland, aber nicht für die Menschen

Das waren aber nicht die Sorgen des Wolfgang Schäuble, dessen Verantwortung für Deutschland keine für die Menschen war, sondern für die Bilanzen. Jene Deutschlands, aber vor allem jene der eigenen Partei.

Die politische Hygiene in Deutschland reichte nicht ganz aus, um aus der CDU-Spendenaffäre echte Konsequenzen zu ziehen. Vielmehr war die Affäre eine gute Gelegenheit für die Partei die eigenen Reihen einmal etwas zu durchmischen. So durfte aus "Kohls Mädchen" die "Eiserne Kanzlerin" werden, weil Schäuble zeitweilig in die zweite Reihe musste.

Bei diesem Karrieresprung ging es weniger um die Kompetenz von Angela Merkel, als um ihre beachtliche Fähigkeit parteiinterne Ränkespiele frühzeitig zu durchschauen und Gegner abzuservieren. Dem Hauptopfer der "schwarzen Witwe" ist bis heute die Zerknirschung ins Gesicht geschrieben. Dank der systemimmanenten Inkompetenz der deutschen Sozialdemokratie wird Friedrich Merz vermutlich dennoch – zwanzig Jahre später – mit dem Kanzleramt belohnt werden.

Es ging immer nur ums Siegen

In seinen späten Jahren legte Schäuble eine recht unverwüstliche guten Laune an den Tag. In Interviews war er darauf bedacht, sein politisches Lebenswerk zu rechtfertigen. Dies tat er mit einem bemerkenswerten Kniff.

Viel linke Kritik an seiner Politik unterstelle überall das Walten von angeblichen Bösewichten. Diese gäbe es aber nicht. (Sagen das nicht alle Bösewichte?) Alles was er, Schäuble, getan habe, insbesondere im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung, sei stets durch Mehrheitsentscheidungen bestätigt worden.

Tatsächlich, die CDU gewann Wahl um Wahl. Sowohl die letzten in der DDR und danach einen Großteil der Wahlen im vereinigten Deutschland. Die wenig erfolgreichen SPD-Interregna von Schröder und Scholz fallen dabei kaum ins Gewicht. Die CDU regiert dieses Land und das wird ja kein Zufall sein.

Die eigentliche Mehrheit erreichte er nicht

Der interessante Wahrnehmungsfehler Schäubles liegt darin, dass er hierbei an die eigene Manipulation glaubt. Schäuble lebte einen recht plumpen Willen zur Macht. Alle seine politischen Entscheidungen waren darauf geeicht, dass sich damit Mehrheiten finden ließen.

Dem entgegen darf zunächst eingewendet werden, dass die eigentliche Mehrheit in Deutschland nahezu immer die Nichtwähler kombiniert mit all denen bilden, die gar kein Wahlrecht genießen.

Dieser Ausschließungsprozess ist entscheidend. Die, die wählen dürfen oder überhaupt noch einen Sinn darin sehen, werden in einem Kurzschluss zur Politik geführt. Ihnen wird das versprochen, was sie hören wollen ("blühende Landschaften") und dann wird gemacht, was die Industrie verlangt. Wer diesen Widerspruch aushält, bleibt der CDU gewogen, wohl auch, weil man andernfalls noch schlimmeres befürchtet.

Mantra der Alternativlosigkeit

Selbstverständlich musste die absurde, deutsche Leidenschaft für die "schwäbische Hausfrau" und ihre "alternativlose Sparpolitik" zunächst geschult werden. Nachdem sie aber gut installiert war, musste konservative Politik nichts anderes mehr tun, als die Austerität unhinterfragt zu predigen. Dafür gabt es dann auch das Prädikat "vernünftig", selbst wenn der Planet deshalb in Flammen steht.

Dieses System belohnt den Opportunismus. Erfolgreiche CDU-Politiker, sei es Helmut Kohl, Angela Merkel oder Schäuble konnten jeweils erfolgreich ihre Überzeugungen vertreten, weil sie keine hatten.

Lehrmeister Kohl (der Spiritus Rector von Merkel und Schäuble) wurde einmal von seiner damaligen Gesundheitsministerin Rita Süssmuth gefragt, was er denn mit der "geistig-moralischen Wende" meinen würde, die er zum Ziel seiner Politik ausgerufen hatte. Kohl zuckte mit den Schultern, über das Wort hatte er nicht viel nachgedacht.

Distinkte Inhaltslosigkeit mit Konsequenzen

Schäuble verkörperte diese distinkte Inhaltslosigkeit mit einer Nonchalance, die weitreichende Konsequenzen hatte. Er sah keine Menschen, wenn er auf den Marktplatz trat, er sah zu manipulierende Mehrheiten. Es ging ihm stets darum, den schlauesten Zug zu finden, um der eigenen Partei die Mehrheiten zu sichern.

Die Schäuble in vielen Nachrufen unterstellte Loyalität war nie etwas anderes als Parteiräson. Hätte er 2015 während der sogenannten Flüchtlingskrise Merkel in den Rücken gestochen, dann hätte dies die Partei zerrissen. Deshalb unterblieb der Dolchstoß.

Demokratie braucht Verantwortung

Demokratie als das zu betrachten, wofür sich Mehrheiten gewinnen lassen, ist eine Engführung, die von den Erfindern so nicht geplant war. Die Abgeordneten einer repräsentativen Demokratie unterliegen sinnvollerweise einzig ihrem Gewissen.

Möglicherweise müssen sie Entscheidungen treffen, die mit der sicheren Abwahl bestraft werden, die sie aber dennoch treffen sollten, allein, weil sie richtig sind. Das würde bedeuten, echte Verantwortung für ein Gemeinwesen zu übernehmen.

Tatsächlich sollten die Volksvertreter "höheren", humanistischen Prinzipien gehorchen, um Schaden von der Bevölkerung abzuhalten. Ein Architekt der Macht, wie es Schäuble fraglos war, wäre von diesem Einfall allenfalls belustigt und hätte ihn als wirklichkeitsfremd abgetan.

Weit verbreitete Kritikunfähigkeit

Damit hätte er auch leider nicht ganz unrecht. Denn in Deutschland gab und gibt es keine ausreichend starke kritische Öffentlichkeit, die herausarbeiten konnte, wie hohl, sinnlos und sogar schädlich, die rein auf den Machterhalt zielende Politik ist, die Wolfgang Schäuble lebenslang verkörperte.

Eingedenk dessen, dass er herben Anfeindungen ausgesetzt war, die mitunter menschenverachtend waren, so fragte die deutsche Trash-Presse nach dem Anschlag auf ihn: "Kann ein Krüppel Kanzler sein?", dann darf auch nach seinem Tod die Frage gestellt werden, weshalb ein so offensichtlich moralisch beschränkter Mensch, diesen Erfolg hatte.

Dies sagt mehr über Deutschland als den meisten lieb sein kann. Schäuble war unfähig Fehler einzugestehen und etwa seine ganz offenkundigen Vertuschungen in der Schwarzgeldaffäre aufzuklären. Er zeigte nie einen Anflug von Mitgefühl gegenüber den – nun ja – Opfern der Austeritätspolitik. Er tat es nicht, weil er vermuten musste, es hätte ihm und seiner Partei geschadet. Schäubles Härte und Blindheit waren karrierefördernd.

Heute wird er in Offenburg beigesetzt – seine Parteifreundin Angela Merkel wird nach Medienberichten überraschend nicht kommen. Allerdings wird die Altkanzlerin am Trauerstaatsakt im Plenarsaal des Bundestags teilnehmen, mit dem er am 22. Januar gewürdigt wird.