Am Anfang waren die Gallertartigen

Die Meerwalnuss (Mnemiopsis leidyi), eine Rippenqualle. Foto: Stefan Siebert, Brown University

Die allerersten Tiere waren komplexer konstruiert als bisher angenommen

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Am Anfang waren die Gallertartigen. Mit ihnen begann die Geschichte des tierischen Lebens. Das ist die Erkenntnis aus der Analyse des Genoms der Meerwalnuss, einer Rippenqualle. Die Evolution geht verschlungene Wege, denn wie es aussieht, startete die Geschichte der Fauna mit unerwartet komplexen Lebewesen. Mutter Natur entwickelte mit der Zeit immer kompliziertere Baupläne, aber bei einigen Tierstämmen griff sie auf vereinfachte Strukturen zurück.

Die Erde hat nach ihrer Entstehung vor 4,6 Milliarden Jahren lange gebraucht, bevor das Leben sich zu regen anfing. Es geschah nach ungefähr einer Milliarde Jahre, wie und wo genau darüber wird noch heftig theoretisiert und debattiert. Die Bakterien und Archaeen kamen als erste zur Welt - erstaunliche Überlebenskünstler, die bis heute selbst die unwirtlichsten Nischen unserer Welt bevölkern (Irdische "Marsbakterien"). Aus ihnen gingen am Ende einer wiederum langen Epoche die Vielzeller hervor.

Die Evolution tierischen Lebens begann im Wasser - das ist der Grund, warum Astronomen im Universum so intensiv nach einem Planeten mit flüssigem Wasser Ausschau halten. Ob die Fauna auf unserem Blauen Planeten in den Meeren geboren wurde, oder doch im Süßwasser, weil die Ozeane damals viel salziger als heute waren - auch darüber wird noch gestritten.

Vieles liegt noch im Dunkel in der Urzeit der Erdgeschichte. Lange Zeit setzten die Wissenschaftler auf Fossilienfunde, was zur Vorstellung führte, das vielzellige Leben sei sozusagen auf einen Schlag während der kambrischen Explosion vor etwa 530 Millionen Jahren auf die Welt gekommen (vgl. Kambrium), da sich aus dieser Epoche eine Vielzahl von versteinerten tierischen Überresten fanden.

Nur langsam dämmerte danach die Erkenntnis, dass es bereits zuvor weichteilige Tiere gegeben hat, die durch das Fehlen harter Bestandteile in ihren Körpern kaum Spuren hinterlassen hatten.

"Wassergefüllte, abgesteppte Luftmatratzen" ohne weiteren evolutionären Effekt?

Erst seit der Mitte des letzten Jahrhunderts setzte sich die Erkenntnis durch, dass im erdgeschichtlichen Zeitalter vor dem Kambrium (bzw. während des Präkambriums) bereits Weichtiere existierten. Auslöser waren Funde in den südaustralischen Ediacara-Hügeln, wo fossile Spuren dieser nach dem Fundort benannten Ediacaria-Fauna an der Unterseite von Steinplatten entdeckt wurden (vgl. Ediacarium).

Seltsame Tiere bevölkerten damals weltweit die Meere, ihre Spurfossilien fanden sich seither an mehr als dreißig anderen Fundstätten auf allen anderen Kontinenten (außer der Antarktis), vor allem in Namibia, Mexiko, England, Skandinavien, Kanada und Sibirien. Jahrzehnte lang wurde heiß diskutiert, ob diese seltsamen Urviecher überhaupt Vorfahren der heutigen Tierwelt seien, oder ob sie schlicht durch ein Massensterben komplett aus der Geschichte abtraten.

Es gab Experten, die sie für eine komplett ausgestorbene Sonderentwicklung der Evolution hielten, eine Art einzellige Dinosaurier, die aus in Kammern aufgeteilten Hohlräumen bestanden, urtümliche "wassergefüllte, abgesteppte Luftmatratzen" ohne weiteren evolutionären Effekt.

Andere Paläontologen vertraten schon vor Jahren die Meinung diese Tiere könnten - auch wegen morphologischer Ähnlichkeiten - direkte Vorfahren der Rippenquallen sein (vgl. Urzeitige Überlebende).

Verschiedene Rippenquallen (Ctenophorae), Ernst Haeckel's Kunstformen der Natur (1904)

Im Rennen als die direktesten Nachfahren der ersten Tiere waren die heißesten Kandidaten zuletzt die Schwämme (Porifera) und die Rippenquallen (auch Kammquallen genannt, Ctenophorae).

Auftritt: Die Genetiker

Zunehmend mischt nun ein neuer Wissenschaftszweig mit, wenn es um die Erforschung der Evolution geht. Die Genetik analysiert das Erbgut heutiger Tiere, vergleicht verschiedene Stämme und Arten sozusagen im Kern und schließt so auf Verwandtschaftsverhältnisse und gemeinsame urzeitliche Vorfahren.

Das Erbgut von Schwämmen war bereits entziffert, ebenso das von Nesseltieren (Cnidaria), zu denen auch die Quallen gehören. Jetzt legt eine US-Forschergruppe um Joseph F. Ryan vom National Human Genome Research Institute in der Online-Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Science die Entzifferung eines Rippenquallen-Genoms vor.

Die Meerwalnuss - ein ganz eigener Zweig in der Evolution

Das Team analysierte die komplette DNS der Meerwalnuss, einer bis zu zehn Zentimeter langen Rippenqualle, die eigentlich an der Atlantikküste Amerikas beheimatet ist, sich aber zudem - eingeschleppt durch Schiffe - als invasive Art in den letzten Jahrzehnten unter anderem im Schwarzen Meer, der Ostsee und im Mittelmeer breit macht (vgl. Global Invasive Species Database: Mnemiopsis leidyi).

Der Körper der Meerwalnuss besteht wir bei allen Rippenquallen aus Gallerte, auf deren Oberfläche Schwimmplatten in acht Reihen angeordnet sind, die wie Rippen oder Kämme aussehen. Plankton, ihre Nahrung, fangen sie mit ihren Tentakeln, denen jedoch im Gegensatz zu denen der Quallen die Nesselkapseln fehlen. Sie sehen zwar ähnlich wie Quallen aus, und verdanken dieser Tatsache ihren Namen, sind aber tatsächlich sehr verschieden von ihnen. Das bestätigt nun auch die neue Genanalyse nachdrücklich (vgl. Mnemiopsis Genome Project Portal).

Unterschätzen sollte man die Rippenquallen auf keinen Fall. Erst kürzlich machten transparenten Meerestiere Schlagzeilen, weil ihr Erfolg als Invasoren auch auf einem Immungedächtnis beruht, das niemand den Winzlingen zugetraut hätte.

Mnemiopsis leidyi, Foto: Bruno Vellutini, Sars International Center for Marine Molecular Biology, University of Bergen, Norway

Der Vergleich mit dem Erbgut anderer Tiere verdeutlichte, dass die Rippenquallen einen ganz eigenen Zweig in der Evolution darstellt, der sich noch vor den Schwämmen von allen anderen Tierstämmen trennte. Sie stellen also die urtümlichste Abzweigung am Tierstammbaum dar.

Die Vorstellung einer linearen Evolution muss ad acta gelegt werden

Verblüffend dabei ist, dass die Meerwalnuss sehr spezielle Muskelzellen hat, denn ihr fehlen fast alle Gene, die bei anderen Tieren für diesen Zelltyp zuständig sind. Wahrscheinlich entwickelten die glibberigen Meeresbewohner diese Muskel-Gene nachdem sie sich bereits in ihren eigenen Zweig der Evolution verabschiedet hatten.

Sie verfügen zudem über ein sehr einfaches Nervensystem, ein sogenanntes Nervennetz ohne Gehirn. Schwämme haben die dafür zuständigen Gene ebenfalls, verloren aber offensichtlich die Fähigkeit ein Nervensystem auszubilden im Lauf ihrer Geschichte. Eine sehr einfache Körperstruktur ohne spezialisierte Muskel- und Nervenzellen genügte ihnen, um seit dem Ediacarium erfolgreich zu überleben.

Die Wissenschaftler vom Meerwalnuss-Genomprojekt schließen aus ihren Resultaten, dass wohl bereits ganz am Anfang der tierischen Evolution der Bauplan für die Ausbildung eines Nervensystems vorlag, die Natur es aber in einigen Fällen wie bei den Schwämmen vorzog, im Lauf der Zeit wieder auf simplere Konstruktionen zu setzen. Die Vorstellung einer linearen Evolution, die sich stets vom Einfachen hin zum Komplexeren entwickelt, muss ad acta gelegt werden. Joseph F. Ryan erklärt:

Unsere Analyse des Mnemiopsis -Genoms untermauert frühere Studien, die bereits vermutet hatten, dass die Rippenqualle die Schwestergruppe alle anderen Tiere darstellt. Mit der Entzifferung des gesamten Genoms in der Hand steht nun fest, dass die Zelltypen für Muskeln oder das Nervensystem entweder in einigen Tierstämmen verloren gingen, oder sie sich trotz der Komplexität dieser Zellen mehrfach während der Evolution entwickelt haben.

Die Meerwalnuss ist also unsere älteste Schwester, genau wie die Rippenqualle namens Seestachelbeere, die in der Nordsee zu Hause ist.