Amok: Der ausschlaggebende Auslöser Antidepressiva?

Seite 6: Warum machen Medien Psychopharmaka nicht zum Thema?

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Wenn aber die Sachlage so klar ist, wieso machen dann selbst Medien wie die New York Times, der britische Guardian oder auch der Spiegel, die sich selbst als höchst investigativ einstufen, nicht Psychopharmaka zum Thema, wenn es darum geht, den Ursachen von Amokläufen à la Lubitz oder James Holmes auf die Spur zu kommen?

David Healy: Eine sehr gute Frage, die nach Antworten verlangt. Zunächst würde ich dazu sagen, dass der investigative Journalismus tendenziell langsam agiert, wenn es darum geht, das Konzernestablishment in Frage zu stellen - so geschehen etwa bei Themen wie Bleivergiftungen oder bei den Machenschaften der Lebensmittelindustrie. Die Sachlage bei einem bestimmten Fall muss schon sehr zwingend sein, bevor sich ein Journalist konkret an ihn heranmacht.

Dies gilt insbesondere auch für Medizinthemen - nicht zuletzt auch deswegen, weil auch Journalisten ja letztlich nur normale Menschen sind. Und die allermeisten von ihnen haben nach wie vor die Vorstellung verinnerlicht, Medikamente seien gewissermaßen "Magic Bullets", also "Wunderpillen", wie es etwa der Harvard-Forscher Allan Brandt in seinem Buch No Magic Bullet beschreibt.

Ist die erwähnte BBC-Dokumentation über Seroxat bzw. Paxil das einzige Ihnen bekannt Beispiel von einem größeren Medium, das sich an den Themenkomplex Psychopharmaka und Gewalt herangetraut hat?

David Healy: Nein. Erst kürzlich, am 14. Juli, berichtete die FAZ über die Auffälligkeit, dass die meisten jungen Amokläufer in Amerika, darunter der erwähnte "Batman shooter" James Holmes, unter dem Einfluss nebenwirkungsreicher Medikamente wie Antidepressiva stehen.

Auch der US-Neurochirurg Sanjay Gupta berichtet 2012 in seiner Eigenschaft als leitender Medizinkorrespondent von CNN darüber, was dahinter stecken könnte, dass junge Menschen zu regelrechten Killermaschinen werden. Aufhänger war das Massaker des 20-jährigen Adam Lanza, bei dem ja insgesamt 28 Menschen ums Leben kamen. Laut Gupta gelte es, die Frage zu bedenken, unter Einfluss welcher Medikamente er gestanden habe. "Wir reden hier im Speziellen über Antidepressiva", so Gupta.

"Wenn man sich die Studien anschaut und auch die anderen Amokläufe dieser Art, die geschehen sind, dann waren die Medikamente ein gemeinsamer Faktor. Und sie können zu erhöhter Impulsivität führen, zu vermindertem Urteilsvermögen und dazu, dass jemand den Kontakt verliert zur Realität."

Doch gerade bei "school shootings" wie dem von Adam Lanza wird ja argumentiert, dass Schusswaffen und der Zugang zu selbigen das Hauptproblem darstellten.

David Healy: Massentötungen gehen leichter mit einer Schusswaffe, doch Antidepressiva stehen auch mit grausamen Morden in Verbindung, die mit Messern oder anderen Tötungsinstrumenten begangen wurden. Abgesehen davon lag die Zahl der Morde, die in den USA mit Schusswaffen begangen worden sind, 1970 genauso hoch wie 2004, doch während 1970 rund 200 Millionen Menschen in den USA lebten, waren es 2010 in etwa 300 Millionen.

Relativ betrachtet gab es in den USA also vor vier bis fünf Jahrzehnten mehr Morde mit Schusswaffen als heute, aber praktisch noch keine Amokläufe mit Schusswaffen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch eine Studie des Pew Research Center aus dem Jahr 2013, die aufzeigt, dass Morde und Gewalttaten, bei denen Schusswaffen verwendet wurden, in den Vereinigten Staaten in den vergangenen 20 Jahren deutlich zurückgegangen sind. Doch gerade in diesen zwei Dekaden ist die Zahl der Massenerschießungen ohne kriminellen Hintergrund stark angestiegen.

Zwar verfügte die US-Arzneimittelzulassungsbehörde FDA - die Food and Drug Administration - im Jahr 2004, dass auf den Beipackzetteln von Antidepressiva noch mal explizit, und zwar in Form einer so genannten Black-Box-Warnung9, vermerkt wird, dass sie die Suizidgefahr erhöhen.10 Doch für eine erhöhte Gefahr für Gewalthandlungen oder gar Tötungsdelikten hat die FDA bis dato noch keine solche Black-Box-Warnung angeordnet. Grund: Es gebe keine Daten, die einen solchen Warnhinweis rechtfertigen würden, so die FDA auf Nachfrage.

David Healy: Beweise dafür, dass Antidepressiva Gewaltakte auslösen können, existieren zweifelsohne.

Wie aber ist dann die fehlende FDA-Verfügung zu erklären?

David Healy: Vielleicht hat die FDA den Schluss gezogen, dass es in den USA politisch unmöglich ist, eine Anhörung über einen Zusammenhang von Antidepressiva und Gewalttaten abzuhalten. Und abgesehen von den Daten aus klinischen Versuchen liefert nicht zuletzt auch das FDA-eigene freiwillige Meldesystem für Medikamentennebenwirkungen, die so genannte MedWatch-Datenbank, solide Beweise dafür, dass Antidepressiva und Gewaltakte in Verbindung stehen.

Inwiefern?

David Healy: Ein Team um den Harvard-Psychiater Joseph Glenmullen wertete in einer Studie diese MedWatch-Datenbank aus: Im Ergebnis entstand eine Liste von 31 Medikamenten, in deren Zusammenhang bereits über Fälle von Gewalt gegen andere Personen berichtet wurde, darunter auch viele Tötungsdelikte. 25 der 31 Medikamente waren Psychopharmaka, wiederum elf davon Antidepressiva.

Das Präparat, das auf dieser Liste Platz 2 belegt und somit am zweithäufigsten mit Gewalttaten in Verbindung gebracht wurde, ist das SSRI-Antidepressivum Fluoxetin, das unter dem Handelsnamen Prozac bekannt ist. Paroxetin, ein anderes SSRI mit dem Handelsnamen Paxil, belegt Platz 3. Sprich, wenn die FDA ihr eigenes Datenmaterial anschauen würde, würde sie fundierte wissenschaftliche Belege dafür finden, eine entsprechende Black-Box-Warnung zu verfügen.

In diesem Zusammenhang machen Experten darauf aufmerksam, dass nicht einmal 1 Prozent aller ernst zu nehmenden unerwünschten Arzneimittelschäden berichtet werden. Kann man also schlussfolgern, dass die Zahl der Gewaltakte und Tötungsdelikte, die mit Medikamenten wie SSRI-Antidepressiva in Zusammenhang stehen, in Wirklichkeit 100 mal oder zumindest sehr viel höher liegt, als von den Statistiken ausgewiesen?

David Healy: Es ist wahr, dass die überwältigende Mehrzahl der Probleme, die Medikamente mit sich bringen können, nicht gemeldet wird. Und es stimmt auch, dass Probleme wie Gewalttaten oder asoziales Verhalten offenbar mit geringerer Wahrscheinlichkeit vermeldet werden, weil die Ärzte hier keine Verbindung herstellen. Aber es ist nicht möglich zu sagen, um wieviel größer die Problematik tatsächlich ist im Vergleich zu dem, was an Nebenwirkungen gemeldet wird.

Wie ist es dann zu erklären, dass Experte kürzlich sogar dafür plädierten, die 2004er Black-Box-Warnung der FDA, wonach Antidepressiva mit einem erhöhten Selbstmordrisiko verbunden sind, wieder zu streichen, weil diese "extrem fragwürdig und quasi bedeutungslos" sei?

David Healy: Die aggressive Kampagne mit dem Bestreben, diese Warnung auf den Beipackzetteln von Antidepressiva zu eliminieren, erinnern daran, wie Politiker und mächtige Wissenschaftler über Jahrzehnte die Gefahren von Substanzen wie Blei, Zigarettenqualm oder Asbest heruntergespielt bzw. negiert haben. Im Fall von Asbest zum Beispiel war es sogar so, dass es bereits um 1900 Hinweise auf dessen stark gesundheitsschädliches, um nicht zu sagen tödliches Potenzial gab. Generell verboten wurde der krebserregende Baustoff, der wohlgemerkt lange als "Wunderfaser" gefeierte worden war, aber erst rund 90 Jahre später.