Amok: Der ausschlaggebende Auslöser Antidepressiva?
Seite 4: "Es muss einen auslösenden 'Umweltfaktor' geben für die 'modernen' Amokläufe"
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Doch wenn Medikamente wie SSRI-Antidepressiva Menschen dazu veranlassen können, sich selbst zu töten oder gar Massentötungen zu begehen, warum ist in solchen Fällen niemandem im Vorwege etwas aufgefallen, was das Verhalten der Täter angeht?
David Healy: Im Gegensatz zu Alkohol oder Drogen wie LSD lassen Antidepressiva die Patienten nicht notwendigerweise verhaltensauffällig werden. Tatsächlich verhalten sich viele Menschen, denen Antidepressiva verabreicht werden, im Wesentlichen normal. Und selbst bei der Erstellung eines Persönlichkeitsprofils erscheinen sie als "normal".
Nehmen wir das Beispiel von Tim Kretschmer, der bei seinem Amoklauf im Jahr 2009 in Winnenden in der Nähe von Stuttgart 15 Menschen und schließlich auch sich selbst tötete. Der damals 17-jährige hatte unter einer Depression gelitten und Medikamente erhalten und war in diesem Zusammenhang in klinischer Behandlung.6 Dennoch war, wie Medien berichteten, selbst den Schulpsychologen nichts aufgefallen, ja sie kamen gar zu dem Ergebnis, dass Tim für sein Alter ein "normaler Schüler" gewesen sei.
Der Konsum von Psychopharmaka und insbesondere Antidepressiva hat in Deutschland und anderen Industrieländern stark zugenommen. In den USA nimmt mittlerweile sogar jeder Vierte - insgesamt fast 80 der knapp 320 Millionen Amerikaner - psychoaktive Arzneimittel ein, und ungefähr die Hälfte davon - rund 41 Millionen Bürger - nehmen Antidepressiva. Müssten wir nicht, wenn Psychopharmaka tatsächlich mit Amokläufen in ursächlicher Verbindung stehen, noch viel mehr solcher Wahnsinnstaten erleben?
David Healy: Die Zahl derjenigen, die als Täter in solch irrsinnige Tötungsdelikte involviert sind, hat ja in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. Und Phänomene wie willenlose Erschießungen an Schulen, Universitäten oder militärischen Einrichtungen, bei denen kein krimineller Hintergrund wie Raub erkennbar ist, gab es vor den 1980er Jahren praktisch nicht - jedenfalls bei weitem nicht in dem Ausmaß, wie wir es insbesondere in den vergangenen 20 bis 30 Jahren erlebt haben.
Folglich muss es hier einen auslösenden "Umweltfaktor" geben für diese "modernen" Amokläufe. Im Übrigen ist zum Beispiel auch bei den US-Streitkräften die Selbstmordrate stark angestiegen und hat ein Rekordniveau erreicht - und parallel dazu hat unter den Soldaten der Konsum von Antidepressiva drastisch zugenommen, darunter von bekannten Präparaten wie Prozac, Zoloft, Paxil, Celexa und Lexapro.
Bei welchen Patienten können die Gewaltprobleme besonders beobachtet werden?
David Healy: Es ist wichtig zu berücksichtigen, dass die Patienten, die am stärksten dazu beitragen, dass mittlerweile so viele Menschen Antidepressiva nehmen, diejenigen sind, die süchtig sind nach diesen Präparaten. Derzeit sind nicht weniger als neun von 10 Menschen, die jedes Jahr Antidepressiva einnehmen, von diesen Medikamenten abhängig. So rührt der insbesondere in den USA während der vergangenen ein oder zwei Jahrzehnte zu beobachtende Anstieg von Menschen, die Antidepressiva nehmen, von denjenigen her, die am Ende eines jeden Jahres die Medikamenteneinnahme beibehalten.
Dies tun sie meist deshalb, weil sie süchtig nach den Pillen sind. Doch diese Gruppe von Patienten ist nicht diejenige, bei der mörderische oder Selbstmordgedanken auftreten. Denn durch Antidepressiva bedingte Gewalt ist in der Regel dann zu beobachten, wenn mit der Einnahme der Präparate begonnen wird oder wenn es durch das Absetzen zu Entzugserscheinungen kommt. Das heißt, man muss sich anschauen, wie häufig Tötungsakte oder Massentötungen zu einer bestimmten Zeit sind - und das dann nicht etwa mit der Zahl der Patienten vergleichen, die in einem konkreten Jahr Antidepressiva nehmen, sondern eben mit der Zahl derjenigen, die die Einnahme gestartet oder mit Absetzungserscheinungen zu kämpfen haben.
Während es heute nicht viel mehr Patienten gibt, die mit der Einnahme von Antidepressiva beginnen, als Mitte der 1990er Jahre, so ist sehr wohl die Zahl die Antidepressiva-"Neulinge" im Laufe der 1980er Jahre markant gestiegen, vor allem in den USA - und diese Zunahme korrespondiert mit dem dortigen starken Zuwachs an Massentötungen ohne speziellen kriminellen Hintergrund wie Schul- oder Kinomassaker in den 80er Jahren. Seit den 1990er Jahren ist die Zahl dieser jährlich zu beobachtenden Massentötungen dann mehr oder weniger konstant.