Amok: Der ausschlaggebende Auslöser Antidepressiva?

Seite 9: Pharmaindustrie und Produktabsicherung

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Sie kritisieren auch, dass viele Leute aus der Pharmaindustrie nichts dafür getan haben, ein System zu installieren, mit dem das Risiko eines "Kamikaze"-Flugzeugabsturzes oder eines Schulmassakers gemanagt werden kann - und dass auch nichts dafür getan wurde, ein System auseinanderzunehmen, das derartige Risiken in viel größerem Ausmaß erzeugt, als wir es tolerieren dürften. Was für ein System würden Sie installieren?

David Healy: Die Pharmaunternehmen haben die Art, wie sie für ihre eigene Sicherheit sorgen, in außerordentlicher Weise perfektioniert - mit der Folge, dass es sehr schwierig ist, ihre Medikamente mit Problemen in Verbindung zu bringen und dadurch womöglich Geldzahlungen zu erwirken oder die Firmen zu blamieren. Wenn man die Techniken anwenden würde, die die Industrie benutzt, um ihre Produkte abzusichern, wäre es nicht möglich gewesen, auf erfolgreiche Weise den Zusammenhang von Medikamenten und Amokläufen oder -flügen mit all ihren dramatischen Konsequenzen zu ignorieren.

Können Sie spezifizieren, welche Techniken der Industrie zur Produktabsicherung Sie meinen?

David Healy: Die Unternehmen haben bereits vor langer Zeit gelernt, dass es im öffentlichen Diskurs gewissermaßen Wunder wirkt, wenn man zum Beispiel bei einer Thematik wie der, dass man ein Haus voller Kinder niedergebombt hat, einfach leugnet, man hätte etwas damit zu tun gehabt - und dann etwa die These hinterherschiebt: Wer weiß, ob die Kinder nicht mit Sprengstoff gespielt haben? Hier wird sehr kunstvoll vorgegangen.

Die Vorgehensweise des Pharmaunternehmens Grünenthal beim Contergan-Skandal, der Anfang der 1960er seinen dramatischen Höhepunkt erreicht hatte und der von Intransparenz, Leugnungen und Beschwichtigungen gekennzeichnet war, macht klar, dass selbst bei der Holocaust-Leugnung derartige Strategien angewendet werden. Ich halte Vorträge zu diesem Thema vor Fachgruppen. Darin geht es typischerweise darum, die Details offen zu legen, wie die Industrie unter dem Stichwort "Holocaust-Leugung" agiert.

Auch in heutiger Zeit passiert es allerdings, dass das System im Sinne des Endverbrauchers funktioniert. So gibt es ja sogar Gerichtsfälle, in denen ein Medikament gewissermaßen schuldig gesprochen wurde bzw. in denen Schuld von einer Person genommen wurde, die unter Medikamenteneinfluss etwa ein Tötungsdelikt begangen hat. Was waren hierfür die entscheidenden Punkte?

David Healy: Glück und der Wille, den Dingen auf den Grund zu gehen. Nehmen wir zum Beispiel den Fall eines 60-jährigen Mannes, der Episoden von Angst und Depressionen durchmachte. Diese verleiteten ihn wohlgemerkt nicht zu Selbstmordabsichten, aggressivem Verhalten oder anderen ernstzunehmenden verstörenden Handlungen. Doch dann begann sein Arzt damit, ihm das SSRI-Antidepressivum Prozac zu verabreichen.

Der Mann reagierte eindeutig auf das Präparat, indem er etwa aufgewühlt und ruhelos wurde und auch halluzinierte. Die Situation verschlechterte sich sogar innerhalb von drei Wochen, obwohl er zusätzlich das Psychopharmakon Trazodon und den Betablocker Propranolol verschrieben bekam, und zwar mit der ursprünglichen Absicht, dass dadurch die Nebenwirkungen des SSRI-Antidepressivums Prozac minimiert würden.

Und bei ihm wurden die Medikamente dann nicht abgesetzt?

David Healy: Einige Jahre später verschrieb ihm ein neuer Hausarzt, dem die durch Prozac bedingten Nebenwirkungen nicht bekannt waren, das SSRI-Antidepressivum Paxil. Nur zwei Tage später nahm sich der Mann ein Gewehr und feuerte drei Kugeln ab, und zwar eine durch den Kopf seiner Frau, eine durch den Schädel seiner Tochter, die gerade zu Besuch war, und eine durch das Haupt seiner neun Monate jungen Enkeltochter - um sich anschließend selbst zu töten.

Drei Jahre später befanden die Geschworenen bei einem Prozess im US-Bundesstaat Wyoming, der von dem Schwiegersohn des Mannes initiiert worden war, dass Paxil "einige Menschen dazu bringen kann zu töten oder sich selbst umzubringen."

Und was passierte mit dem Macher von Paxil?

David Healy: Das Pharmaunternehmen SmithKline Beecham, das heute GlaxoSmithKline heißt, wurde zu 80 Prozent für die sich ergebenden Ereignisse verantwortlich gemacht.12 Das urkundliche Beweismaterial beinhaltete eine nicht publizierte Unternehmensstudie, die bei 80 Patienten stark aggressives Verhalten dokumentierte, wobei es in 25 dieser Fälle zu Tötungsdelikten kam.

Im Zusammenhang mit dem Amokflug des Gemanwings-Co-Piloten Andreas Lubitz präsentierte die Europäische Flugaufsichtsbehörde EASA am 17. Juli einen Forderungskatalog. Demnach sollen sich Piloten während der Ausbildung oder auch bevor sie ihren Job antreten, psychologischen Tests unterziehen. Und das Blut der Piloten soll auf Spuren von Alkohol und Drogen getestet werden. Zudem diskutieren die EASA-Verantwortlichen auch die Möglichkeit, das Blut nach Spuren von Psychopharmaka zu untersuchen. Sind derlei Maßnahmen zielführend?

David Healy: Ich denke, diese Art von Tests sind irrelevant. Viele Menschen, die Antidepressiva nehmen, verhalten sich, wie gesagt, absolut normal, und auch bei der Erstellung von Persönlichkeitsprofilen werden sie ja als "normal" eingestuft. Solange also keine Akzeptanz dafür existiert, dass die Medikamente Probleme verursachen können, und es auch keine speziellen Fragen gibt, die darauf abzielen zu klären, ob die Präparate wirklich helfen oder Probleme verursachen, werden die Tests keine Hilfe sein.

Angehörige der Opfer der Germanwings-Katastrophe lehnen das niedrige Angebot der Lufthansa in Höhe von 25.000 € je Opfer ab und fordern - neben persönlicher Anteilnahme und einer Entschuldigung - einen Entschädigungsbetrag in Höhe von 200.000 € für jeden Toten. Nun will man sogar in den USA vor Gericht ziehen, wo Hinterbliebene gerne das Zehnfache der in Deutschland üblichen Beträge erhalten. Denken Sie, dass die Hinterbliebenen darüber nachdenken sollten, in diesem Zusammenhang die mögliche Rolle der Medikamente, unter dessen Einfluss Lubitz gestanden hat, juristisch ins Spiel zu bringen?

David Healy: Wenn ich ein Angehöriger eines der Opfer wäre und meinen würde, eine Pharmafirma hätte Daten zurückgehalten, die aufzeigen, dass ein bestimmtes Präparat das Risiko für einen solchen Amokflug erhöht - ich wäre sicherlich rasend vor Wut.

Nachtrag:

Wie der Focus kürzlich berichtete, hat der Berliner Anwalt Elmar Giemulla, der 39 Familien der Opfer vertritt, "einen Weg für eine Klage in den USA gefunden". Der Luftfahrtrechtler bereitet demnach "eine Kooperation mit US-Anwälten" vor, um den deutschen Branchenführer in Übersee auf viel höhere Entschädigungen zu verklagen als hierzulande üblich. Im Erfolgsfall, so US-Opferanwalt Michael Danko, "können die Familien jeweils mit Millionen von Dollar rechnen."

Normalerweise verhindert das Luftfahrtabkommen von Montreal, dass geschädigte Passagiere oder deren Hinterbliebene sich das Land mit den höchsten Schmerzensgeldtarifen für einen Prozess aussuchen können. Anwalt Giemulla ist sich indes sicher, dass er einen Pfad gefunden hat, "um die Fesseln des Montrealer Abkommens abstreifen zu können".