Amok: Der ausschlaggebende Auslöser Antidepressiva?

Seite 8: Mentale Störungen als ursächlicher Faktor

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Etablierte Psychiater scheinen auch viel eher die Karte der Persönlichkeitsstörung zu spielen, wenn es zu Amokläufen kommt. Der Psychiater Holm-Hadulla etwa stellte in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung die These auf, der Germanwings-Amokpilot Lubitz könnte unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung gelitten haben, wodurch in ihm ein "kalter Hass" entstanden sei, der ihn schließlich zu seiner Tat, die mit einem "terroristischen Anschlag vergleichbar" sei, verleitete. Auch wenn Holm-Hadulla auf Nachfrage11 konzediert, seine These sei nur eine "mehr oder weniger plausible Vermutung", ist es nicht sinnvoll über derlei psychische Störungen als auslösenden Faktor nachzudenken?

David Healy: Zunächst sehe ich hier erneut das Problem, dass die harten Fakten, die zur potenziellen Rolle von Medikamenten bei solchen Taten vorliegen, nicht in Betracht gezogen werden, während die Medien und Experten andererseits nicht zögern, sich in Spekulationen über mentale Störungen als ursächlichen Faktor zu ergießen.

Im Übrigen hat Lubitz nach den Informationen, die mir vorliegen, nicht unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung gelitten, denn er scheint nicht die typischen Verhaltensweisen an den Tag gelegt zu haben, die mit einer solchen Störung einhergehen. Dazu zählt etwa, dass man übermäßig damit beschäftigt ist, andere zu beeindrucken, um von ihnen bewundert zu werden.

Wie steht es mit einem möglichen Einfluss von Alkohol oder anderen Drogen?

David Healy: Lubitz dürfte auch nicht unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen wie LSD gestanden haben, wobei die Untersuchungen diesbezüglich auch keine Hinweise ergeben haben. Doch ohne Frage sollten bei der Ursachenforschung alle Theorien in Betracht gezogen werden. Solange wir nicht wissen, unter welcher Art von mentaler Störung Lubitz genau gelitten hat, ist es unmöglich, sich hier exakt zu äußern.

Gibt es denn solide Studien, die aufzeigen, dass psychische Leiden wie eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, eine Depression oder eine bipolare Störung als wesentlicher auslösender Faktor für einen Amokflug oder ein Schulmassaker in Frage kommen?

David Healy: Studien dieser Art existieren nicht. Und narzisstische Persönlichkeitsstörungen zum Beispiel lösen auch nicht solche Wahnsinnstaten aus.

Wenn man also alle zur Verfügung stehenden Fakten analysiert, sehen Sie dann, dass es noch eine andere plausible Erklärung geben kann für die Wahnsinnstat von Lubitz als die, dass er unter dem negativen Einfluss von Psychopharmaka wie SSRI-Antidepressiva gestanden hat?

David Healy: Nicht wirklich.

Kritiker sagen, dass die Psychiatrie voll ist von Interessenkonflikten, also voller Verbindungen zur Pharmaindustrtie. Wie schwerwiegend ist das Problem - und trägt es dazu bei, dass Psychiater zögern, die "Medikamenten-Karte" auszuspielen, wenn es zu Wahnsinnstaten wie der von Andreas Lubitz kommt?

David Healy: Das ist ein Faktor, und in der Tat hat die Psychiatrie ein Problem mit ihrer Nähe zur Pharmaindustrie. Man denke nur an den Umstand, dass die Altersbezüge der meisten Ärzte wahrscheinlich von der Performance der Pharmaaktien abhängen. Das heißt, dass die Pharmafirmen in Schwierigkeiten geraten, liegt nicht in ihrem Interesse.

Was wir besonders bräuchten, sind Mediziner, die gewillt sind, eine gute medizinische Versorgung zu leisten, anstatt nur nach den Richtlinien von Gesundheitsmanagern zu agieren - und die sich dafür stark machen, dass die Nicht-Einnahme von Medikamenten eine Möglichkeit darstellt.

In Ihrem Artikel über Lubitz - Winging it: Antidepressants and Plane Crashes -, den Sie zu Beginn dieses Interviews erwähnten, führen Sie aus, dass viele Leute in der Pharmaindustrie seit langem gewusst hätten, dass so etwas wie der Kamikaze-Crash von Andreas Lubitz passieren kann. Warum haben diese Leute bzw. Firmen dann keine entsprechenden Maßnahmen getroffen?

David Healy: Die Pharmaindustrie weiß seit geraumer Zeit, dass Antidepressiva und andere Präparate eine ganze Reihe von Problemen verursachen können - von Selbstmord über Tötungsdelikte bis hin zu Geburtsfehlern und Entzugserscheinungen. Und sie haben zahlreiche Mechanismen eingeführt, um Sicherheit zu gewährleisten - und zwar die Sicherheit der Unternehmen.

Sie betreiben ein Business, das mit dem Ziel agiert, diejenigen Risiken zu minimieren, die das Wohl des Unternehmen gefährden könnten - und das sind eben zuvorderst Probleme, die durch Medikamente entstehen können. Diese Sicherheitspolitik steht im Widerspruch zur Sicherheit der Patienten, die mit diesen Medikamenten behandelt werden, oder der unschuldigen Menschen, die zu Opfern werden von diesen unter Medikation stehenden Personen.