Amok: Der ausschlaggebende Auslöser Antidepressiva?

Seite 5: Gegenläufige Expertenmeinungen

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Ist eine vergleichbare Parallele auch bei Flugzeugunglücken bzw. bei Amokflügen von Piloten zu beobachten?

David Healy: Lubitz hatte offenkundig das Problem, dass er von der Idee besessen war, er müsse die medikamentöse Behandlung unbedingt fortsetzen, um nicht seinen Job zu verlieren. Und wenn die betroffenen Menschen durch ihre Ärzte oder die Umstände dahin getrieben werden, die medikamentöse Behandlung unbedingt fortzusetzen, obgleich die Therapie eigentlich nicht wirklich zu ihnen passt, dann ist damit die Grundlage dafür gelegt, dass die Situation irgendwann eskalieren kann.

Im Übrigen gibt es gute Belege dafür, dass amerikanische Absturzermittler bei einer bedeutenden Zahl von Flugzeugunglücken, bei denen die Piloten unter dem Einfluss von Antidepressiva gestanden hatten, den Medikamenten eine gewisse Mitschuld gaben. Allerdings war dies nur bis zum Jahr 2010 so. Denn in diesem Jahr wurde es offiziell genehmigt, dass Piloten Antidepressiva nehmen dürfen. Und seither hören wir nichts mehr über Flugzeugabstürze, bei denen darüber nachgedacht wird, ob Antidepressiva ursächlich eine Rolle gespielt haben könnten.

Der Psychiater Rainer Holm-Hadulla von der Universität Heidelberg zum Beispiel sagt jedoch auf Nachfrage, dass "es durch nichts belegt oder wahrscheinlich gemacht ist, dass Antidepressiva gewalttätiges Verhalten deutlich begünstigen" - und seiner Meinung nach sei es auch "höchst unwahrscheinlich", dass derart "massive Gewalttaten durch solche Medikamente bedingt werden".7

David Healy: Wenn die Medien darüber berichtet hätten, dass Andreas Lubitz "Straßendrogen" wie Amphetamine, Kokain oder LSD genommen oder sogar reichlich Alkohol getrunken hatte, bevor er ins Flugzeug stieg, dann hätten viele Menschen - darunter auch etliche Ärzte - wohl keine Probleme gehabt mit der Vorstellung, dass diese Drogen die maßgebliche Ursache für die Katastrophe waren oder zumindest entscheidend zu ihrer Entstehung beigetragen haben.

Das heißt, Ärzten und anderen widerstrebt es in erster Linie deswegen daran zu denken, dass die Medikamente die Probleme ausgelöst haben könnten, weil eben von Psychopharmaka die Rede ist - und dies, obgleich derlei Medikamente ziemlich identisch sind mit den illegalen Drogen, die in den 1960er Jahren vor allem deswegen verboten wurden, weil sie aggressiv und gewalttätig machen und andere problematische Verhaltensweisen verursachen können.

Der Psychiater Henning Saß, Vorsitzender des Beirats der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), sagt aber auf Nachfrage, dass ihm während seiner "jahrzehntelangen Patientenbehandlung" im Zusammenhang mit SSRI-Antidepressiva "Nebenwirkungen in Form von Gewalthandlungen nicht bekannt geworden sind".8

David Healy: Das klingt außergewöhnlich. Nehmen wir das Beispiel der BBC, die im Rahmen ihrer investigativen Sendung Panorama über den Themenkomplex SSRI-Antidepressiva, Gewalt und Suizide berichtete - und darüber, wie Firmen versuchen, hier Probleme unter den Teppich zu kehren. Die Reaktionen auf die Dokumentation mit dem Titel "The Secrets of Seroxat" - das SSRI-Antidepressivum Seroxat ist auch unter dem Handelsnahmen Paxil bekannt ist - waren beträchtlich.

Inwiefern?

David Healy: Die Redaktion erhielt 1.374 E-Mails von Zuschauern, die meisten davon waren Patienten. Und einem meiner Forscherkollegen, Andrew Herxheimer, war es gelungen, diese Zuschriften in ihrer Gesamtheit zu analysieren. Demnach brachten viele Einsender ihre emotionalen Ausbrüche, ihre gewalttätigen Gedanken und Gewaltakte oder ihr selbstverletzendes Verhalten mit dem SSRI-Antidepressivum Paroxetin, also Paxil, in Verbindung - und zwar sowohl bei Beginn der Einnahme als auch dann, wenn die Dosis verändert wurde.

Dabei handelte es sich wohlgemerkt nicht um bloße anekdotische Erzählungen, denn die Analyse zeigte klar auf, dass ein Zusammenhang bestand zwischen dem gewalttätigen Verhalten und der verabreichten Medikamentendosis. Auch waren es persönliche Berichte über Gewalttaten von Patienten, die keine erkennbare Historie gewalttätigen Verhaltens hatten.

Darüber hinaus stand die Analyse im Einklang mit einer Auswertung von Berichten über gewalttätige Gedanken und Gewaltakte oder Selbstverletzungen bei der Einnahme von Paroxetin bzw. Paxil, die Ärzte an die Aufsichtsbehörde für Arzneimittel in Großbritannien, die MHRA, gemeldet hatten.